Die 58-jährige Vandana Shiva, Trägerin des Alternativen Nobelpreises, sprach mit dem Abendblatt über eine verträgliche Landwirtschaft.

Hamburg. Sie sitzt am Osterbekkanal und spricht mit Feuereifer über eine "gewaltfreie Landwirtschaft", die keine ökologischen und sozialen Schäden anrichtet: Die indische Wissenschaftlerin und "Graswurzel"-Aktivistin Prof. Vandana Shiva, 58, war gestern auf Einladung des World Future Council, dessen Ratsmitglied sie ist, und der Bucerius Summer School auf Vortragsreise in Hamburg. Die charismatische Vorkämpferin für eine ökologische Landwirtschaft hat vor allem eine Botschaft für unsere Stadt: "Die Bürger Hamburgs sollten ihre Stimme erheben, wenn es um die Frage geht, was auf ihren Tellern landet."

Das, was heute meist verspeist wird, trifft nicht den Geschmack der Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin; denn es stammt aus einer Agrarindustrie, die Shiva als "gewalttätige Landwirtschaft" bezeichnet. Mit Giften und Kunstdünger führten die Bauern chemische Feldzüge gegen die Natur, sagt Shiva. Aus ihrer indischen Perspektive spricht sie sogar von einer "Suicide Economy", einer Selbstmord-Wirtschaft: In ihrer Heimat brächten sich Bauern, die in den Händen großer Agrarkonzerne seien, mit Pestiziden um, weil sie hoch verschuldet seien, nicht mehr selbst bestimmten, was sie anbauten und an wen sie ihre Ernten verkauften. "Seit 1997 haben sich mehr als 250.000 Farmer in den Bundesstaaten Andhra Pradesh, Karnataka, Maharashtra und Punjab das Leben genommen."

Die von Shiva gegründete Forschungsstiftung RFSTE (Research Foundation for Science, Technology and Ecology) beobachtet seit 1982 den Einfluss des liberalisierten Weltmarktes auf die indischen Bauern. Sie kritisiert den Einzug der Gentechnik, angeführt vom US-Konzern Monsanto. Und sie wehrt sich im Namen der betroffenen Dorfgemeinschaften gegen die Patentierung von Pflanzen wie etwa den Neembaum, der Wirkstoffe für Medizin und Landwirtschaft liefert. "Die Erde gehört uns allen. Aber einige große Konzerne haben die Illusion, dass ihnen der Planet gehört. Sie belasten die Atmosphäre mit Kohlendioxid, verschmutzen Flüsse, greifen sich die natürlichen Ressourcen."

Die Landwirtschaft als Produzentin der Lebensmittel, der Mittel zum Leben, gehört in Gemeinschaftsbesitz und nicht in die Hände von multinationalen Unternehmen, davon ist Vandana Shiva überzeugt. Für ihr langjähriges, erfolgreiches Engagement wurde sie vielfach ausgezeichnet; unter anderem erhielt sie 1993 den Alternativen Nobelpreis. Dabei begann ihre berufliche Laufbahn in einer gänzlich anderen Disziplin. "Tief von Einstein inspiriert", habe sie Physik an der University of Western Ontario in Kanada studiert, erzählt sie. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über spezielle Aspekte der Quantentheorie.

Der Schritt von winzigen Elementarteilchen hin zu praxisnahen Globalisierungsthemen wurzelt in ihrem Elternhaus. Vandana Shiva wuchs in Dehradun am Fuße des Himalaja auf. Ihre Mutter gab ihren Beruf im Schuldienst, ihr Vater seinen Militärposten auf, um als Bauern und Waldhüter zu arbeiten. Vor dem Studium erlebte Shiva, wie Wälder rücksichtslos gerodet werden. Sie schloss sich der Chipko-Bewegung an, in der Dorfbewohner Bäume umarmten, um sie vor den Holzfällern zu schützen. Es waren hauptsächlich Frauen - seitdem ist die Physikerin überzeugt, dass Frauen sich mehr für den Erhalt der Erde engagieren als Männer. Das liege daran, dass Männern sehr früh beigebracht werde, "die wirklich wichtigen Dinge des Lebens, wie Babys oder Pflanzensamen, als unwichtig zu behandeln".

Die Erfahrungen der Chipko-Bewegung führten Shiva nach ihrer Promotion zum Waldschutz, obwohl sie die Quantenphysik faszinierte. "Ich habe mir gesagt: Wenn ich die Physik weiter betreibe, dann mache ich das nur für mich. Wenn ich aber für die Umwelt kämpfe und wissenschaftlich arbeite, dann hilft das vielen Menschen, auch zukünftigen Generationen. Also habe ich mich für diesen Weg entschieden."

Ihre Hinwendung zur Landwirtschaft brachten zwei Ereignisse im Jahr 1984: Im Juni starben bei religiösen Aufständen im landwirtschaftlich geprägten Bundesstaat Punjab Tausende Menschen, und im Dezember explodierte die Pestizidfabrik der Union Carbide Corporation in Bhopal. Mehr als 3000 Menschen wurden direkt vom Gift getötet, Zehntausende weitere Opfer starben an den Folgen. Der Erhalt des einheimischen Saatguts in den Händen der lokalen Dorfgemeinschaften und eine chemiefreie Landwirtschaft mit lokalen Märkten wurden seither die wichtigsten Ziele Shivas.

1991 wurde aus RFSTE die Organisation Navdanya, was aus dem Indischen übersetzt "neun Samen" bedeutet. Mehr als 70 000 Bauern schlossen sich ihr an, bewirtschaften ihre Felder biologisch, erklären Areale zu gentechnikfreien Regionen, sammeln und vermehren Saatgut, legen Mischkulturen aus Getreide, Bohnen und Kürbissen an, die fast den doppelten Ertrag bringen wie Monokulturen dieser Pflanzen.

"Wir erreichen mehr biologische Vielfalt auf den Äckern, leisten einen Beitrag zum Schutz der Umwelt, weil wir auf Chemikalien verzichten, und verbessern gleichzeitig die Nahrungsversorgung. Wir haben die Lösung für die Ernährungskrise, dazu braucht es keine Gentechnik", betont Shiva. Sie freut sich über mehr und mehr Besucher aus afrikanischen Staaten: "Sie lernen aus unseren schlechten Erfahrungen mit den Agrarkonzernen und sehen sich die alternative, nachhaltige Landwirtschaft an", sagt sie zufrieden.

In den ersten Jahrzehnten ihrer Arbeit hatte sich die Mutter eines 29-jährigen Sohnes in ihrer Freizeit immer mal wieder der Quantenphysik gewidmet. Aber inzwischen komme sie nicht mehr dazu, bedauert Vandana Shiva. "Monsanto lässt mir einfach keine Zeit dafür", sagt sie lächelnd.