Seit 150 Jahren gilt der Archaeopteryx als Bindeglied zwischen Dinosauriern und Vögeln. Neue Fossilienfunde lassen daran Zweifel aufkommen

Hamburg. Selten ist einem toten Vogel so viel Ehre erwiesen worden. Sein Abbild ziert Gedenkmünzen und Sonderbriefmarken, er ist der Star bei Filmabenden und Vorträgen, das Berliner Museum für Naturkunde widmet ihm eine Sonderaustellung. Applaus für: Archaeopteryx, den Urvogel.

Aber halt: War das hühnergroße Tier überhaupt ein Vogel? Oder verfügte der Archaeopteryx zwar über vogeltypische Merkmale, hatte aber dennoch mit der Entstehung der Vögel nichts zu tun? Mittlerweile deutet einiges darauf hin, dass der fossile Superstar den Status verlieren könnte, der ihm 150 Jahre lang zugeschrieben wurde.

Es begann mit dem versteinerten Abdruck einer Feder, der 1860 im Plattenkalk eines Steinbruchs bei Solnhofen entdeckt worden war. Am 15. August 1861 beschrieb der Frankfurter Paläontologe Hermann von Meyer den Fund dann erstmals wissenschaftlich und nannte ihn Archaeopteryx - "alte Feder". Im selben Jahr stieß ein Arbeiter auf das erste Skelett der Kreatur.

Bis heute sind in der Region zehn Exemplare geborgen worden, die schätzungsweise 147 Millionen Jahre alt sind und aus dem Oberjura stammen. Zwei Jahre bevor das erste Skelett entdeckt worden war, hatte Charles Darwin seine Theorie über die Entstehung der Arten veröffentlicht. Die Befürworter seiner Annahmen sahen Archaeopteryx als "missing link", als evolutionäres Bindeglied, zwischen Dinosauriern und Vögeln. Denn das Fossil zeigt Merkmale beider Gruppen: Zähne, ein langer Wirbelschwanz und mit Klauen bewehrte Finger lassen Archaeopteryx als Verwandten der Reptilien erscheinen; die zu einem Gabelbein verschmolzenen Schlüsselbeine und die Federn sind charakteristisch für Vögel.

Allerdings fehlt den Fossilien der vogeltypische Brustbeinkamm, an dem von beiden Seiten die kräftige Flügelmuskulatur ansetzt. Ohne dieses Merkmal dürfte bestenfalls ein kurzer Aufstieg in die Lüfte möglich gewesen sein. Fliegen konnte das Tier wahrscheinlich dennoch, aber wohl nur, wenn es eine Anhöhe erklomm und von dort herabsegelte. Dass Archaeopteryx auf Bäume kletterte, ist zweifelhaft. Der Paläontologe Gerald Mayr vom Frankfurter Senckenberg-Forschungsinstitut hatte 2005 das zehnte Archaeopteryx-Fossil genauer untersucht, auf dem bis dato unbekannte Details sichtbar waren. Dabei stellte Mayr fest: Die Hinterzehe von Archaeopteryx war nicht nach hinten gedreht wie bei modernen Vögeln, sondern seitlich abgespreizt wie der menschliche Daumen. Äste umgreifen konnte Archaeopteryx so wohl nicht.

Ob Forscher das Tier als Stammvater aller Vögel einordneten, war immer davon abhängig, wie sie Vögel definierten. Eine Mehrheit sah aber offenbar vor allem die Federn und das Gabelbein über Jahrzehnte als Belege dafür, dass Archaeopteryx eher Vogel als Reptil war - und wegen des konkurrenzlosen Alters der Fossilien galt Archaeopteryx eben als erdgeschichtlich ältester Vogel.

"Mittlerweile wissen wir aber, dass viele Saurier Federn hatten", sagt Dr. Günter Bechly, Paläontologe am Stuttgarter Naturkundemuseum. Dennoch habe Archaeopteryx im Stammbaum der Saurier bis zuletzt den untersten Ast belegt, der zu den Vögeln führte. Nun aber bringt ein neuer Fossilienfund Bewegung in die Ahnengalerie. In der nordchinesischen Provinz Liaoning entdeckten Forscher die Überreste eines ebenfalls hühnergroßen, gefiederten Dinosauriers, den sie Xiaotingia zhengi tauften. Mit schätzungsweise 155 Millionen Jahren ist das Fossil älter als Archaeopteryx und könnte ihm schon allein deshalb den Rang als Urvogel ablaufen. Für Aufsehen sorgte der Fund aber vor allem, weil die Forscher erstens Xiaotingia als Verwandten des Archaeopteryx sehen, wie sie im Magazin "Nature" schreiben, und zweitens, weil sie bei beiden Tieren bezweifeln, dass diese direkte Vorfahren der Vögel waren. Die Chinesen hatten ein Computerprogramm mit Merkmalskombinationen der beiden Fossile und weiterer Arten gefüttert. Der überraschende Befund: Sowohl Xiaotingia als auch Archaeopteryx stehen den sogenannten Deinonychosauriern näher als den modernen Vögeln. Zur Gruppe dieser Urechsen zählt etwa der Velociraptor, bekannt durch Spielbergs Film "Jurassic Park". Insofern "war der Archaeopteryx kein Urvogel, sondern ein kleiner, auf den Hinterbeinen laufender Raubsaurier mit Federn", sagt Dr. Matthias Glaubrecht, Evolutionsbiologe am Berliner Naturkundemuseum.

Zwar wäre es prinzipiell möglich, dass aus den Deinonychosauriern die modernen Vögel entstanden. Für Archaeopteryx bedeutet das aber zumindest, "dass er nur noch eines von mehreren möglichen Bindegliedern zu den Vögeln darstellt", sagt Günter Bechly. "Er besetzt jetzt einen Seitenast in der Ahnenlinie der Vögel."

Doch der Stammbaum kann sich verändern, sobald ein neues befiedertes Fossil hinzukommt. Für Paläontologen bleibt also noch genug zu tun. "Das Rennen ist wieder völlig offen", sagt Matthias Glaubrech.