Bis heute sind nur fünf Familien auf der Welt bekannt, deren Angehörige ohne Fingerabdrücke leben. Forscher fanden jetzt heraus, warum

Basel. Ein Schalter der Einwanderungsbehörde, irgendwo in den USA, im Jahr 2007. Eine Schweizerin, Ende 20, möchte einreisen. Doch da gibt es ein Problem: Die Zollbeamten können ihre Identität nicht bestätigen. Ihrem Passfoto ähnelt die Frau zwar perfekt. Als die Beamten jedoch ihre Hände untersuchen, trauen sie ihren Augen nicht: Die Frau hat keine Fingerabdrücke.

Das Fehlen von Fingerabdrücken nennen Wissenschaftler Adermatoglyphia. Bis heute sind auf der Welt nur fünf Familien bekannt, die an dieser Störung leiden. Zu einer dieser Familien gehört die junge Schweizerin.

Um das Geheimnis der fehlenden Fingerabdrücke zu lüften, haben Forscher vom Tel Aviv Sourasky Medical Center in Israel und dem Universitätskrankenhaus in Basel jetzt drei Generationen dieser Schweizer Familie untersucht. Adermatoglyphia war in der Familie bereits über vier Generationen autosomal dominant vererbt worden. Das heißt, jeder Nachkomme hatte geschlechtsunabhängig eine fünfzigprozentige Chance, selbst betroffen zu sein.

Von den 16 untersuchten Familienmitgliedern waren neun ohne Fingerabdrücke zur Welt gekommen. Die anderen sieben hatten normale Fingerkuppen. Die Wissenschaftler um den israelischen Dermatologen Eli Sprecher schlossen daher auf eine genetische Ursache. Sie verglichen das Erbgut der Familienmitglieder ohne und mit Fingerabdrücken - zunächst ohne Erfolg. Erst beim Durchsehen von Onlinedatenbanken, in denen Genmutationen gespeichert werden, stießen die Forscher auf ein verdächtiges Gen mit dem Namen SMARCAD1.

Bei allen Familienmitgliedern ohne Fingerabdrücke war dieses Gen verändert, nicht so bei den anderen Familienmitgliedern. Das mutierte Gen führt dazu, dass ein fehlerhaftes Protein in der Haut gebildet wird, schreiben die Wissenschaftler im Fachjournal "The American Journal of Human Genetics".

"Da wir jetzt ein kritisches Element für die Bildung von Fingerabdrücken identifiziert haben, müssen wir noch besser verstehen, wie dieses Molekül die Bildung dieser ausgesprochen komplexen, dreidimensionalen Strukturen reguliert", sagt Eli Sprecher. Die Vermutung der Wissenschaftler: Das in der Haut gebildete SMARCAD1-Protein könnte dazu beitragen, dass sich Hautzellen in der frühen Embryonalentwicklung übereinanderfalten. Die für den Fingerabdruck typischen Hautleisten, Dermatoglyphen genannt, bilden sich zwischen der zehnten und 18. Schwangerschaftswoche. Danach bleiben sie ein Leben lang unverändert und unverkennbar.

Statt Dermatoglyphen haben Menschen mit der Mutation im SMARCAD1-Gen relativ glatte Fingerspitzen. Allein ein wirres Muster von Linien ist zu erkennen. Auch an den Handflächen, Zehen und Fußsolen fehlen ihnen die charakteristischen Rillen. Zudem schwitzen die Betroffenen weniger an den Händen; ihnen fehlen dort die Schweißdrüsen.

Ein Leben ohne Fingerabdrücke klingt für Verbrecher wie ein Traum. Doch tatsächlich leiden Menschen mit Adermatoglyphia meist unter schmerzhaften Erkrankungen. Ihre Haut bildet Blasen, ist lichtempfindlich oder verhornt. Die fehlenden Fingerabdrücke sind für sie nur ein Nebeneffekt. Von den fünf bisher bekannten Familien ohne Fingerabdruck haben nur zwei keine schwere anderweitige Grunderkrankung. Die Familie aus der Schweiz ist eine davon.

"Das ist ein sehr seltener und extremer Zufall", erklärt Bettina Burger, Dermatologin am Universitätskrankenhaus Basel. In unseren Genen sind Basenpaare wie Buchstaben in einem Wort aneinander gereiht. Tauscht man einen Buchstaben aus, ergibt das Wort keinen oder einen verfälschten Sinn. So wird etwa ein "Haus" zu einer "Maus". Genauso ist es bei den Genen. Bei der Schweizer Familie ist ein einziges Basenpaar vertauscht. Das allein reicht für den erblichen Verlust der Fingerabdrücke aus.

Hätten die Mitglieder dieser Familie im alten China oder Japan gelebt, wären sie vermutlich bei ihren Geschäftspartnern unangenehm aufgefallen: Schon im Jahr 906 vor Christus wurden dort Urkunden und Verträge mit Fingerabdrücken besiegelt. Der englische Beamte Sir William Herschel erkannte im Jahr 1858 den Nutzen von Fingerabdrücken. In der indischen Provinz Kalkutta kämpfte er mit dem Phänomen der "unsterblichen indischen Pensionäre". Diese Soldaten, die Großbritannien gedient hatten, holten sich ihre Pensionen gerne zwei oder dreimal ab. Warum gelang ihnen das so leicht? Angeblich sahen Inder für europäische Augen alle nahezu gleich aus, trugen oft die gleichen Namen oder konnten keine Unterschrift leisten. Diesem betrügerischen Treiben setzte Herschel ein Ende. Von nun an musste jeder Pensionär seine Fingerabdrücke hinterlassen.

Auch das erste System, mit dem man bei der Verbrecherjagd Fingerabdrücke klassifizieren konnte, wurde in Indien entwickelt. Aus den Punkten, Linien und Mustern errechnete der Polizeibeamte Sir Edward Henry im Jahr 1901 Formeln, unter denen die Fingerabdrücke abgelegt wurden. Sein Klassifizierungssystem breitete sich später in der ganzen Welt aus. In Deutschland führte im Jahr 1903 der Dresdner Polizeipräsident Paul Koettig die erste Fingerabdrucksregistratur ein.

Inzwischen spielt der genetische Fingerabdruck, also das individuelle DNA-Profil eines Menschen, in der Kriminalistik eine zentrale Rolle. Nur bei eineiigen Zwillingen greift es nicht. Sie können mit dem DNA-Test nicht unterschieden werden - anhand der 40 Merkmale eines individuellen Fingerabdrucks jedoch schon. Noch nie wurde beobachtet, dass zwei Menschen den gleichen Fingerabdruck hatten.

Die junge Schweizerin hat dieses individuelle Merkmal nicht. Stattdessen besitzt sie jetzt eine Bescheinigung. Die Wissenschaftler aus der Schweiz und Israel haben ihr offiziell bestätigt, dass sie keine Fingerabdrücke besitzt.