Menschen, ohne Kontakt zur Zivilisation - in Papua-Neuguinea oder Amazonien. Die Uno fordert, ihre Rechte zu achten - auch das auf Isolation.

Ein Wald, sehr dicht bewachsen, Regenwald vermutlich. Die Kamera zoomt heran, der stark verwackelte Blick fällt auf ein großes Laubblatt, das langsam zur Seite geschoben wird. Dahinter erscheint ein Gesicht, dann noch eins, auf einmal ganz viele, kleine nackte Männchen mit Topfschnitt strahlen dem Objektiv entgegen.

Diese Szene stammt keineswegs aus einem Science-Fiction-Film über die sagenhafte Erstbegegnung mit Aliens, auch nicht aus einem Entdeckerroman aus dem 18. Jahrhundert. Sie ist tatsächlich so passiert, vor gerade mal 15 Jahren, als bislang einziges authentisches Dokument der Erstbegegnung mit Menschen, die niemand zuvor aus nächster Nähe gesehen hatte. Aufgenommen hat sie der berühmteste lebende "Sertanista" (Wildnis-Kundschafter), Sydney Possuelo.

Der heute 71-jährige brasilianische Indio-Scout hat sich wie kein anderer dem Schutz und der Bewahrung indigener Völker verschrieben. Darunter vor allem der sogenannten "unkontaktierten", also derjenigen, die ohne jeden Außenkontakt leben. "Isolados" heißen sie bei den Sertanistas. Sieben direkte Begegnungen mit solchen Stämmen hat Possuelo im Laufe seines Lebens erlebt, allesamt im Amazonas-Gebiet, 1996 hat er dabei mit einer Videokamera gefilmt. Und ginge es nach ihm, wird es bis auf Weiteres das letzte Dokument der Begegnung bleiben. "Wir sollten sie in Ruhe lassen", sagt er heute. "Das ist das beste, was wir für sie tun können."

Seine Arbeit kann im Zeitalter von Google Maps, Weltraumforschung und Genomentschlüsselung schon fast als Kuriosität gelten. Unsere durchglobalisierte Hochzivilisation hat fast jeden Winkel der Welt erkundet, kartografiert und kultiviert - und doch leben auf dem Planeten viele Dutzend Völker, die kein Auto kennen, kein iPhone, ja nicht einmal die Regierung ihres eigenen Landes. Erst vor wenigen Tagen erschien erneut ein solcher, vollkommen vom Rest der Welt isolierter Stamm im Licht der Weltöffentlichkeit. Ein Team der staatlichen brasilianischen Schutzbehörde FUNAI, kurz für Fundação Nacional do Índio, hatte auf Satellitenbildern Lichtungen im Javari-Tal ausgemacht, einem entlegenen Flecken inmitten des brasilianisch-peruanischen Grenzgebiets. Sie erkundeten die Gegend per Flugzeug und mit Teleobjektiven ausgestattet, aus möglichst großer Entfernung, um die Angepeilten nicht allzu sehr zu stören.

Auf den Fotos sind vier Hütten zu sehen, Mais-Plantagen, Bananenbäume; insgesamt wohl eine Siedlung für rund 200 Menschen. Hütten und Pflanzungen seien höchstens ein Jahr alt, sagte FUNAI-Koordinator Fabricio Amorim. Soll heißen: Dieser Stamm ist gerade umgezogen. Von nun an wird Amorim die Lichtung im Auge behalten, um im Ernstfall das Schlimmste zu verhindern: dass sich nämlich Eingeborene und Eindringlinge auf dasselbe Gebiet zubewegen.

Rund 90 Völker rund um den Globus gelten unter Forschern als bislang "unkontaktiert", also als isoliert lebend. Die meisten gibt es in Brasilien. Allein im Javari-Tal sollen es sieben sein, hinzu kommen noch einmal sieben Stämme, die bislang nur sehr sporadisch von der Außenwelt in Augenschein genommen wurden. Insgesamt sind es rund 2000 Menschen. Einige, wie die Awá, sind nomadisch lebende Jäger, immer in Bewegung und in der Lage, binnen Stunden eine neue Unterkunft zu bauen. Andere sind sesshafter, leben in Gemeinschaftshäusern, bauen Maniok an, jagen und fischen. Hinzu kommen Dutzende Stämme im weiteren Amazonas-Gebiet sowie in den Nachbarländern Peru, Bolivien, Ecuador und Kolumbien. Auch das Volk der Sentinelesen auf den Andamanen-Inseln im Indischen Ozean, die zu Indien gehören, lebt isoliert. Dass ihre Zukunft als akut ungewiss gelten kann, mag kaum verwundern. Dass sich Hilfsorganisationen in aller Welt vermehrt für ihren Schutz - und vor allem: für den Fortbestand ihrer Isolation - einsetzen, schon eher.

"Unsere Aufgabe ist es, es den Indianern zu ermöglichen, den Zeitpunkt ihrer Kontaktaufnahme selbst zu wählen", sagt Linda Poppe. "Sie sollen selbst entscheiden, ob sie ihre Isolation aufgeben wollen." Die 28-Jährige leitet die Berliner Division von Survival International, der jüngsten und hierzulande derzeit umtriebigsten unter den Indio-Hilfsgruppen. Amazonas-Stämme wie die im Javari-Tal lebenden oder die 1996 von Sydney Possuelo kontaktierten Korubo haben so manchen hellhäutigen Eindringling auf dem Gewissen - ob Holzfäller, Abenteurer oder Hobby-Ethnologen. Fast alle zufälligen Direktkontakte verliefen feindselig.

Und wenn sich ein Volk fremden Einflüssen doch einmal öffnete, endete dies meist fatal. "Nach unseren Erfahrungen sterben bis zu 90 Prozent der Indianer in den ersten Wochen der Koexistenz mit Fremden", sagt Poppe. "Ihr Immunsystem ist gegen die Vielzahl der bei uns geläufigen Krankheitserreger so gut wie ungeschützt." Die Matis zum Beispiel - ein weiterer Stamm aus dem Javari-Tal - wurden 1975 von der FUNAI kontaktiert, es folgten regelmäßige Treffen mit FUNAI-Vertretern, anderen Indianer-Stämmen sowie Holzfällern. Damals zählte der Stamm rund 300 Mitglieder. Drei Jahre später waren es nur noch wenige Dutzend. Überlebende Matis sagen, in den Monaten nach dem Erstkontakt hätten sie teilweise nicht genug gesunde Leute gehabt, um die Toten zu beerdigen.

Im Namen der Urvölker aufzutreten, auch ohne deren Stimme zu kennen, hält Linda Poppe auch deshalb für geboten. "Wir wenden uns gegen die Ausrottung und setzen uns für die elementaren Lebensrechte dieser Völker ein. Immerhin handelt es sich um die verletzlichsten Menschen der Erde."

Wie verletzlich sie sind, zeigt sich insbesondere dann, wenn ihr angestammter Lebensraum, ohnehin kontinuierlich schrumpfend, durch spektakuläre Industrieanlagen weggespült zu werden droht. Jüngstes Beispiel: das geplante Wasserkraftprojekt Belo Monte im brasilianischen Bundesstaat Xingu, das drittgrößte seiner Art in der Welt. Mit drei Talsperren soll der Rio Xingu gestaut werden, um die im Bundesstaat sehr präsente Montanindustrie mit günstigem Strom zu versorgen. Der Nebeneffekt wäre, dass Indianer wie die weitgehend abgeschottet lebenden Juruna bei der geplanten Inbetriebnahme 2015 ihren Fluss kaum wiedererkennen dürften. Der Pegel soll stark sinken, mit unabsehbaren Folgen für Ökosystem und Artenvielfalt. Und für das Überleben der Juruna.

Dennoch genehmigte der damalige Präsident Lula da Silva das Projekt im vergangenen Frühjahr. Seither allerdings sind Zahl und Prominenz der Staudamm-Gegner beträchtlich gewachsen. International operierende Hilfsorganisationen wie die Gesellschaft für bedrohte Völker machen Druck. Die gewichtigste Stimme in der Region gehört Erwin Kräutler, 73, gebürtiger Österreicher und seit 1980 katholischer Bischof der Diözese Xingu mitten im Amazonasgebiet. Der Mann, den sie in seiner Heimat nur "Dom Erwin" nennen, ergreift beinahe täglich das Wort für die Interessen der Ureinwohner und gegen das Staudamm-Projekt Belo Monte, das er nur noch "Belo Monstro" nennt - schönes Monstrum.

Den PR-trächtigsten Auftritt im Namen der Indigenen aber absolvierte einmal mehr Hollywood. Im März 2011 besuchte "Avatar"-Regisseur James Cameron das Gebiet, diesmal zusammen mit Arnold Schwarzenegger, der vor versammelter Medienmasse über grüne Politik in Kalifornien referierte. Was den Vorteil hatte, dass auch die anwesenden Vertreter der Indianer vor der Weltpresse Gehör fanden.

"Unsere Regierung ist nicht bereit zum Dialog mit ihren eigenen Bürgern", sprach Häuptling Sheyla Juruna da in die Kameras. "Sie verstößt permanent gegen ihr eigene Gesetzgebung, wonach Großprojekte wie Belo Monte nicht gegen den Willen der Indigenen realisiert werden dürfen." In der Tat hat sich Brasilien zur Einhaltung der Uno-Charta verpflichtet. "Öffentlicher Druck ist das einzige Mittel zur Rettung der Indigenen", sagt Linda Poppe. Im Fall des Javari-Tales zeigt die Strategie bereits kleine Wirkung. Perus Regierung, die bislang fleißig Ölförderlizenzen erteilt und die Existenz der Isolados schlicht bestritten hatte, kündigte Anfang des Jahres an, künftig die Region im Verein mit FUNAI besser schützen zu wollen.

Immerhin, dieses Ziel haben Sertanistas wie Sydney Possuelo und Aktivisten wie Linda Poppe fürs Erste erreicht: Die dokumentierten Erstkontakte mit Indigenen beweisen der Welt, dass es sie gibt. "Wenn es mit Brasiliens Industrialisierung so weitergeht, werden Kontakte unvermeidlich", sagt der FUNAI-Veteran José Carlos Meirelles, "und besser begegnen sie uns als Holzfällern oder Goldgräbern."

Am besten, darin sind sich die Indio-Unterstützer einig, wäre es natürlich, wenn man von den Phantom-Völkern aus Amazonien und anderswo künftig möglichst wenig sieht und hört. Wenn man sie weiter leben ließe, wie sie leben wollen: ungestört im Urwald.