Der Ahrensburger Joachim Schönwälder hat ein Boot für Querschnittsgelähmte entwickelt. Jürgen Becher hat es auf der Alster getestet.

Hamburg. Beängstigend nahe an der Wasserkante hat Jürgen Becher seinen Rollstuhl geparkt, die Handbremse gezogen und sich vorsichtig auf den Holzboden hinabgleiten lassen. Unselbstständig und unbeeinflussbar hängen die Beine am Rumpf des Mannes, was für den 58-Jährigen in diesem Moment aber kein Hindernis zu sein scheint. Konzentriert arbeitet er sich vorwärts. Erst hievt er seine Beine mithilfe seiner Arme in Richtung eines der beiden seitlichen Decks. Wie zwei Trampoline sehen die bespannten Flächen aus - so heißen sie auch in der Segelfachsprache.

Mit einem kräftigen Ruck stemmt er seinen Körper in die Höhe und schiebt ihn weiter aufs Boot. Das Gleiche noch einmal, und wenige Sekunden später erreicht er wie selbstverständlich den Sitz, der genau in der Mitte des Bootes positioniert ist. Jürgen Becher ist seit 28 Jahren vom zwölften Brustwirbel an querschnittsgelähmt. Und gleich wird er auf der Außenalster segeln. Allein. Nur unter Anleitung eines Fahrlehrers.

Dass es zu diesem kleinen Abenteuer kommt, hat Becher dem Ahrensburger Joachim Schönwälder zu verdanken, der ein Sportboot konstruiert hat, das ganz normal zu betreiben ist. Aber zugleich soll es das Handicap von Behinderten gegenüber trainierten Seglern mit allen Bewegungsfähigkeiten vergessen machen. Ja, sogar ein Wettkampf sei möglich, behauptet Schönwälder kühn. Ein sein Leben lang auf den Rollstuhl angewiesener Mensch, der in einem Behindertenboot für einige Minuten aus seinem persönlichen Gefängnis in die Freiheit der Natur entlassen wird? Das klingt nach einer exotischen und bewegenden Geschichte, wirft jedoch auch sofort zweifelnde Fragen auf: Wie soll das funktionieren? Vor allem aber: Was passiert, wenn das Boot kentert?

Treffpunkt für den Segeltest ist der Bootsanleger "barca an der Alster". Schönwälder, der Erfinder. Martin Zewadzinski, der Erbauer. Und Becher, der Proband, der für uns vom Ostseebad Rerik nach Hamburg gekommen ist. Knapp sind seine Antworten nach der Begrüßung. Richtig wohl scheint sich Becher in der Rolle als Versuchs-Behinderter nicht zu fühlen. Immerhin erzählt er, dass 1983 ein Arbeitsunfall in der Landwirtschaft die Ursache seiner schlimmen Verletzung war. "Die Maschine war zu schwer ..." Und dass er noch im Krankenhaus daran dachte, wie es weitergehen soll: "Schließlich hatte ich eine Frau und drei Kinder zu Hause sitzen." Becher wechselte den Job, fing in einer Behindertenwerkstatt an und entdeckte den Sport für sich, den er mit seinen zwei funktionierenden Beinen noch gemieden hatte. "Wasserski, Tauchen und Schwimmen" - er konnte das nasse Element mit entsprechenden Hilfsmitteln auf viele Arten erleben. Nur gesegelt hatte er noch nie. In seinem Heimatort in Mecklenburg-Vorpommern liegt eines von vier bisher gebauten Exemplaren von Schönwälders Booten. Das machte ihn neugierig, etwas Neues auszuprobieren.

An den Tischen auf den dicken Holzbohlen der Terrasse freuen sich die Hamburger über die sanften Sonnenstrahlen. Nebenan feiert eine Frau im roten Kleid mit Freunden und Familie ihren 50. Geburtstag. Trotzdem ruhen viel Blicke auf Becher, der sich gerade seines Rollstuhls entledigt hat und sich nun mit Fahrlehrer Zewadzinski zu einer Runde mit dem Combi-Tri aufmachen will. Tri steht für den Bootstyp der Trimarane, die drei parallel angeordnete, schmale Rümpfe aufweisen. Die seitlichen Rümpfe dienen der Kippstabilität. Combi soll auf die optionalen Zusatzausrüstungen hinweisen.

Mithilfe des eingebauten Elektro-Außenborders dreht Becher eine enge Kurve, steuert dabei mit der linken Hand die Pinne, mit der das Ruder bedient wird. Zewadzinski hilft, das an einem Rollmast befestigte 9,2 Quadratmeter große Segel zu hissen, dem Becher mit einem zweiten Seil die nötige Straffheit verpasst. Die Ausfahrt auf der Alster erinnert an das Cruisen mit einer Chopper auf der Landstraße. Artig und präzise reagiert das Ruder auf die Lenkmanöver. Einige Augenblicke später verschwinden die beiden aus dem Sichtfeld. Start gelungen.

Erfinder Schönwälder bestellt uns einen Kaffee. 60 000 Euro, seine gesamten Ersparnisse, hat er investiert, damit seine Vision Wirklichkeit werden konnte. "Ich bin eben ein norddeutscher Dickkopf, hätte es mir nicht verziehen, nicht alles versucht zu haben." Einfach in der Handhabung sollte sein Boot sein, dazu unsinkbar und praktisch kentersicher, erinnert er sich an die Anfänge. "Der Behinderte bin im Grunde ich, ich kann mich nicht mehr richtig bewegen, ziehe das Bein nach und habe es im Rücken. Von der einen zur anderen Seite zu flitzen, geht nicht mehr."

Beim Bau nützten dem 70-Jährigen seine Erfahrungen, die er als Maschinenbau-Ingenieur in einer "Kunststoffschmiede" in Stade gesammelt hatte. Mit GFK, einem hochwertigen Epoxydharz, der normalerweise im Flugzeugbau zum Einsatz kommt, konstruierte er das Boot mit drei wasserdichten Kammern, die für genügend Eigenauftrieb sorgen. "Der Combi-Tri ist jedenfalls sicherer als die ,Titanic'", verspricht Schönwälder und sieht auch seinen zweiten selbst gestellten Auftrag als erfüllt an. Bei bis zu vier Windstärken könnten selbst Laien das Boot inklusive eines Beifahrers auf den Seitenflächen gefahrlos steuern. Ein Belastungstest bei acht Windstärken und voller Segelfläche habe nur eine 15-prozentige Neigung (Krängung) ergeben, so Schönwälder. Selbst ein Haltegurt sei denkbar, um das Herausfallen zu verhindern. Bisher seien die Seitenstützen des Sitzes aber ausreichend gewesen.

Becher legt nach seinem 20-minütigen Segeltörn wieder an und bekommt noch einmal Anfänger-Hilfe. Um ihm ein bequemes Aussteigen zu ermöglichen, stellt sich der Fahrlehrer nach der Ankunft auf das dem Anleger abgewandte seitliche Deck, wodurch das andere "Trampolin" genau die Höhe der Holzbohlen erreicht und sich Becher aus dem Boot an Land heben kann. An einem normalen Ufer wäre ein alleiniges Aussteigen wohl einfacher, aber nicht unbedingt trockener, sollte es nicht gelingen, das Boot seitlich zu parken.

"Was für ein großer Spaß. Segeln! Das war das, was mir noch gefehlt hat, ich liebe das Wasser", sprudelt es aus ihm heraus. Bechers Laune hat sich deutlich verbessert. Wie es war? Tatsächlich fallen Begriffe wie "Unabhängigkeit", er beschreibt, wie erhaben es ist, den Wind beherrschen zu können. "Es war wesentlich einfacher, als ich es mir je vorgestellt habe", sagt er. "Das Boot ist wirklich sehr leicht zu bedienen und liegt stabil im Wasser. Dadurch bekommt man doch mehr Vertrauen zu der Sache."

Reine Kopfsache sei es, die anfängliche Angst zu überwinden. Man brauche natürlich schon Mut. Aber sonst hätte er ja gleich zu Hause bleiben können. "Der Rest ist probieren. Ganz ehrlich: Ich habe mich vorher auch gefragt, ob ich umkippe, wenn der Wind kommt." Aber selbst wenn er wirklich kentern sollte, würde ihn ja seine Schwimmweste an der Oberfläche halten. Ob er sich in Zukunft aber wirklich einmal trauen würde, alleine loszusegeln? "Absolut. Das nächste Mal in Rerik ist es so weit."

Den Gedanken, sich endlich gleichberechtigt unter Nichtbehinderten in der Gesellschaft bewegen zu können, pulverisiert Becher dagegen mit einem tadelnden Blick und fügt an: "Hier geht es ausschließlich darum, mit anderen Menschen gemeinsam Sport zu treiben." Punkt. Die Freiheit, von der Becher viel lieber und nach dem brummigen Beginn überraschend leidenschaftlich spricht, ist der Wegfall von falsch vermuteten Grenzen sowie Verhaltens- und Denkmustern. Szenen wie kürzlich in der Warteschlange am Taxistand sind Alltag. "Lassen Sie doch der armen Frau mit ihrem Mann den Vortritt", forderte jemand die Umstehenden auf. Richtig übel wird ihm, wenn er hören muss, er sei an den Rollstuhl gefesselt. "Sehen Sie dann hier irgendwo eine Kette?", fragt Becher provozierend. Dass junge gehandicapte Menschen als "I"-Kinder, als Integrationskinder, in Schulen oder Kindergärten bezeichnet würden, will Becher ebenso wenig akzeptieren: "Damit signalisiert man ihnen, dass man sie in die Gesellschaft hereinholen muss, weil sie draußen sind. Ich persönlich fühle mich aber nicht draußen, also muss ich nicht integriert werden." Falsch sei genauso die Kategorisierung in Gesunde und Behinderte, die häufig gezogen werde. "Bloß weil ich nicht laufen kann, heißt das nicht, dass ich krank bin." Für Becher gäbe es eine einfache Lösung, um die Strukturen aufzubrechen: "Könnte ich entscheiden, würde ich alle diese ausgrenzenden Begriffe abschaffen." Für ein barrierefreies Miteinander kämpft Becher seit 15 Jahren aktiv im Verband für Behinderten- und Rehabilitationssport in Mecklenburg-Vorpommern.

Ganz andere Hürden hat Schönwälder zu überwinden. Viel problematischer, als sein Boot einsatzfähig zu machen, war es, es tatsächlich zum Fahren zu bringen. Als er sein Prototyp 2009 das erste Mal bei einer Reha-Messe vorstellte, reiste er beinahe euphorisch an, um dann tief frustriert festzustellen, dass keiner von 17 vertretenen Landesverbänden bei seinem Stand vorbeigeschaut hatte. Dabei ist das patentierte Boot mit 11 800 Euro durchaus erschwinglich - und eben eine Weltneuheit, da beim einzig noch existierenden Behindertenboot, dem "2.4 mR", der Einstieg nur mit fremder Hilfe möglich und der Sitzbereich sehr tief ist. Zudem wird der Segler, sagt Schönwälder, während der Fahrt mit einem solchen Boot besonders bei Starkwind sehr nass.

Schönwälder kämpft weiter, unverdrossen. Er glaubt, dass mit seinem Boot die paralympischen und olympischen Disziplinen zusammengeführt werden und Menschen gleichberechtigt um Medaillen segeln könnten. Aber bis heute sind Skepsis, Scheuklappen und eingefahrene Strukturen mächtige Gegner seiner Idee, worunter auch Zewadzinski zu leiden hat. Der gelernte Bootsbauer, der sich in Neuburg bei Wismar selbstständig gemacht hat, sagte sofort zu, als ihn Schönwälder bat, den Combi-Tri zu bauen. Ohne Fördermittel, ohne Fremdfinanzierung "Das Projekt hat mich gereizt, weil das hier kein stupides Bauen war, sondern auch ein gemeinsames Entwickeln beinhaltete", sagt Zewadzinski. Weil er so überzeugt ist, bestand ein ein Teil seiner Bezahlung darin, dass er Anteile an der GmbH Schönwälders erhielt. Beide wollen weitermachen. "Für mich ist es eine große Befriedigung, dass ich sagen kann, die Sache zu Ende gebracht zu haben. Und zwar mit eigener Kraft, ohne Hilfe", kündigt Schönwälder an.

Kleine Fortschritte gibt es. Immerhin. Becher will mit seinen guten Verbindungen in den Deutschen Behinderten-Sportverband Kontakte herstellen. Auch der Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommerns engagiert sich inzwischen. Für sein Projekt hat Schönwälder den Innovationspreis des Landes gewonnen. Doch der Verkauf läuft noch schleppend. Ein Boot ist nach Leipzig verkauft worden, neben Rerik soll nun auch eines an der Müritz zum Verleih angeboten werden - natürlich nicht nur an Behinderte, schließlich fallen auch wenig geübte Nichtbehinderte in die Zielgruppe - wie der Autor dieses Textes, auf den allerdings eher das Prädikat ahnungsloser Segler zutrifft. Ein perfektes Opfer also für eine letzte, kurze Probefahrt.

Der Mittelsitz gleicht eher einem bequemen Kinosessel, während wir zügig Tempo aufnehmen. Schnell weicht die Unsicherheit dem Vergnügen, und der Zeiger des Geschwindigkeitsmessers erreicht dank der gütigen Anleitung von Zewadzinski trotz des eher flauen Windes erstaunliche Zonen. "Und? Wie schnell waren Sie unterwegs? Wir haben immerhin 6,6 Knoten (12,2 km/h, d. Red.) geschafft!", ruft der Autor euphorisch. "Ich überlasse den Triumph gerne den anderen", entgegnet Becher leise lächelnd. In diesem Moment macht es endgültig Klick: Wir sind auf keinem Behindertenboot gesegelt.

Es war einfach nur ein Boot.