Ein Aneurysma im Kopf ist unheimlich. Kaum einer weiß, dass er diese Arterienerweiterung hat. Reißt oder platzt es, kann dies tödlich enden. Wer es überlebt, muss kämpfen.

Manche Dinge vergisst man nie. Heißt es. Weil sie das Leben prägen, für immer verändern. Und weil danach nichts mehr so ist wie davor. Der Tag, der das Leben von Stefanie Marggraff in zwei Stücke zerriss und in "Davor" und "Danach" teilte, war ein Montag. Das vergisst sie nie. Es ist eine der letzten Erinnerungen, die sie hat. An "Davor". Ihr altes Leben, ihr altes Ich. Als sie Mitte 20 war und mit ihrem Freund zusammenlebte. Als sie an der Uni Hamburg Betriebswirtschaft studierte und wissenschaftliche Mitarbeiterin war. Und als sie dachte, dass ihr die Welt offensteht. Bis zu jenem Montag, an den sie nur eine einzige Erinnerung hat. Wie sie mit ihrem VW-Golf zur Uni fährt und auf der Hoheluftchaussee anhalten muss, weil sie plötzlich Kopfschmerzen hat. So stark, dass es kein Wort gibt, um sie zu beschreiben. So elementar, dass sie nichts anderes mehr wahrnimmt, nur den Schmerz. So furchtbar, als ob ihr Kopf gespalten wird, platzt. "Und es ist auch etwas geplatzt, im Kopf drinnen. Und zwar eine dünnwandige Ader", sagt Stefanie Marggraff. Sie hat diesen Satz aufgeschrieben, damit sie ihn nicht vergisst. Weil sie so vieles vergisst, seit jenem Montag, als bei ihr im Kopf ein Aneurysma platzt. Damals ist sie 27 Jahre alt.

Seit Monica Lierhaus an einem Aneurysma operiert wurde und monatelang im Koma lag, ist viel über das Thema geschrieben wurden. Darüber, dass schätzungsweise rund zwei Prozent der Bevölkerung so eine Aussackung im Gehirn haben. Dass sie nur bei einem sehr geringen Teil der Betroffenen reißt - doch dass nur schätzungsweise die Hälfte der Patienten so eine Blutung überlebt. Über Stefanie Marggraff ist noch nie geschrieben worden. Weil sie niemand ist, der im öffentlichen Interesse steht. Niemand, deren Schicksal die Gesellschaft bewegt. Niemand, deren Namen man kennt. Nicht einmal sie selbst, anfangs.

Manche Dinge im Leben vergisst man nie. Möchte man glauben. Weil man sich das Unvorstellbare nicht vorstellen kann. Nicht vorstellen will. Dass man manche Dinge vielleicht doch vergisst. Sogar den eigenen Namen, die eigene Identität. Wie man heißt, wo man ist. Wer man ist.

15 Jahre ist es her, dass Stefanie Marggraff ein Stück ihres alten Selbst verloren hat. Es sind Jahre, in denen ihre Freunde geheiratet und Kinder bekommen haben - während sie selbst zurück in ein Leben finden musste, das so anders ist, dass es nicht mehr ihr Leben zu sein scheint. 15 Jahre auf der Suche nach der Erinnerung.

Die Erinnerung, sagt Steffi, sei wie ein Dieb in der Nacht. Der flieht, wenn man ihn fassen will. Immer wieder entwischt, scheinbar unerreichbar ist. Meistens. Nur manchmal gelingt es ihr, die Erinnerung einzufangen. Festzuhalten, für ein paar Sekunden. Dann setzt sie sich an den Computer und schreibt alles auf. Damit sie es nachlesen kann, wenn ihr die Gedanken wieder durch die Finger gleiten. Wenn sie sich nicht mehr erinnern kann. "Ich, Stefanie Marggraff, geboren am 24.12.1968 habe mein Abitur im Schulzentrum-Süd in Norderstedt gemacht und dann eine Ausbildung zur Bankkauffrau bei der Privatbank Johann Berenberg, Gossler & Co.". Das sind die ersten Worte in ihrem Erinnerungstagebuch. "Meine Hotels" nennt Steffi ihre Aufzeichnung. Weil sie nach der Zeit im Koma immer dachte, dass sie in einem Hotel ist. Und nicht im Krankenhaus. Im Krankenhaus, wo man ihr die Haare abrasiert, ein Loch in den Kopf gebohrt und eine Drainage gelegt hat. Und wo sie eine zweite Blutung bekommen hat, monatelang im Koma lag. Bis man ihr schließlich vier Monate später den Schädel geöffnet und das Aneurysma mit Metallclips abgeschottet hat. "Die Angeographie im UKE hat ergeben, dass ich erfolgreich geclippt bin! Gott sei dank. Sonst hätte die Ader noch mal platzen können", hat Steffi dazu aufgeschrieben, in einer besonders großen Schrift, fett. Damit sie es sofort sieht, wenn sie die Aufzeichnungen durchgeht. Damit sie es nicht vergisst, so wie viele andere Dinge im Leben.

Wenn Stefanie Marggraff ihre Geschichte erzählt, spricht sie von den anderen Patienten, Krankenschwestern und Ärzten wie von Freunden. Sie waren ihre Freunde, als sie keine anderen Freunde hatte. Weil sie sich damals nicht mehr an sie erinnern konnte. Sie wusste nicht mehr, dass sie eins der beliebtesten Mädchen in der Uni ist. Dass fast täglich Freunde anrufen und nach ihr fragen, Blumen und Briefe schicken. Doch sie wusste, dass sie nicht alleine ist. Immer wieder steht in Stefanies Erinnerungsbuch, wie sie die Stimmen ihrer Eltern und ihres Freundes hörte, als sie im Koma lag. Und wie sie gelächelt hat, wenn jemand einen Scherz gemacht hat. Das weiß sie aus Erzählungen ihrer Mutter und ihres Vaters. Die Erinnerungen ihrer Eltern haben sich mit ihren vermischt.

Manchmal, wenn Stefanie Marggraff im Fernsehen Monica Lierhaus sieht, scheint es ihr, als sehe und höre sie sich selbst. Die schleppende Sprache, den unkontrollierbaren Gang. Genauso, sagt sie, sei es bei ihr auch gewesen. Damals. Als sie mithilfe von Ergo-, Physio- und Psychotherapeuten wieder alles lernen musste. Sich anziehen, waschen, ein Brot schmieren. Sprechen, laufen. Leben. Schreiben konnte sie sofort, lesen nicht. "Es war, als ob sie ein Wort buchstabiert hat. Sie kannte die Buchstaben, konnte sie aber nicht zu einem Wort zusammenfügen", sagt Stefanies Vater Reiner Marggraff, 65.

Manche Dinge im Leben vergisst man nie. Obwohl man es sich wünschen würde. Doch Reiner Marggraff kann nicht vergessen. Die Erinnerung hat sich in sein Gedächtnis gebrannt, so wie sie aus Steffis Gedächtnis auslöscht wurde. Die Erinnerung, wie der Anruf vom Krankenhaus kam. "Kommen Sie schnell, ihre Tochter wurde eingeliefert ..." Wie es war, seine Steffi im Koma zu sehen. Zu erleben, wie sie aus dem Koma aufwachte, mit den Augen rollte - und eine zweite Gehirnblutung bekam. Und wie es war, zu funktionieren. Tagsüber zu arbeiten und abends am Bett von Steffi zu sitzen. Angst zu haben - und doch stark sein zu müssen. Früher war er Diplom-Ingenieur und hat Lösungen für Probleme entwickelt. Heute steht er vor Problemen, für die es keine Lösung gibt.

Das BWL-Studium musste Stefanie abbrechen, arbeiten kann sie nicht mehr. "Es ist, als ob auf ihrer Festplatte ganze Bereiche gelöscht wurden", sagt Reiner Marggraff und versucht, das Unerklärliche zu erklären. Dass Steffi Gedichte aufsagen kann, die sie als Kind gelernt hat - aber nicht weiß, was sie morgens in der Zeitung gelesen hat. Dass sie Lieder aus den 90er-Jahren mitsingen kann - aber sich nicht erinnert, was sie während des Studiums gelernt hat. Dass sie sich gemerkt hat, was ihr Freund vor 20 Jahren zu ihr gesagt hat - aber nicht ihr Vater vor fünf Minuten. Wenn sie eine Aufgabe erledigen soll, schweift ihre Aufmerksamkeit ab, bei längeren Gesprächen kann sie sich nur schwer konzentrieren. Arbeiten gehen? Auto fahren? Alleine leben? Undenkbar!

Wenn Stefanie Marggraff ihre Geschichte erzählt, beginnt sie mit dem Tag, als das Aneurysma platze. Doch sie weiß nicht, wo sie aufhören soll. Als sie aus dem Krankenhaus nach Hause kam? Als sich ihr Freund nach 13 Jahren Beziehung von ihr trennte? Als ihre Mutter starb? Oder als sie selbst ein paar Jahre nach dem Aneurysma auch noch Brustkrebs bekam? Auch das gehört zu ihrer Geschichte, auch das steht in ihrem Erinnerungsbuch. Es ist eine Aneinanderreihung von Daten und Fakten. Über ihre Gefühle schreibt sie nicht, spricht sie nicht. Weil ihr die richtigen Worte fehlen. Aber sie sagt immer wieder, dass sie froh ist, dass es ihr so gut geht. Dass sie wieder laufen und sprechen kann. Dass sie bei ihrem Vater wohnen darf, zusammen mit ihm tanzen geht, einen Töpferkursus macht. Dass Fremde ihr erst einmal nichts anmerken. Und vor allem, dass sie gerettet wurde. Lebt. "Ich probiere, das Gute zu sehen." Trotz allem. Oder gerade deswegen. "Viele Menschen mit Gehirnblutung sterben sofort. Ich nicht", sagt Steffi. Daran erinnert sie sich jeden Tag. Denn manche Dinge im Leben vergisst man nie.