Tiere mit außergewöhnlichen Eigenschaften dienen als Vorbilder für neue Technik. Ein Berliner Wissenschaftler erforscht sie in der Wüste Marokkos

Berlin. Es geschah nachts in der Wüste Erg Chebbi in Marokko, am Rand der Sahara. Mit einem Handscheinwerfer wanderte Ingo Rechenberg durch die Dünen, um die in der Dunkelheit aktiven Tiere zu beobachten. "Plötzlich sah ich, wie mich etwas Großes überholte", erinnert sich der Forscher von der Technischen Universität Berlin. Erst dachte er an eine Echse, sah dann aber eine handtellergroße Spinne im Sand hocken. Neugierig fing er das Tier ein.

Am nächsten Morgen wollte Rechenberg die Spinne auf dem Sand filmen - doch ehe er sich versah, rollte ihm sein achtbeiniger Hauptdarsteller davon. "Ich war außer mir vor Begeisterung", sagt Rechenberg. Eine so ungewöhnliche Art der Fortbewegung hatte bis dahin noch niemand beobachtet. Man kannte zwar die Goldene Radspinne (Carparachne aureoflava) aus der Wüste Namib, die mit angezogenen Beinen einen Hügel hinunterkullert. Doch diese bisher unbekannte Spinne konnte Rad schlagen wie ein Profi-Turner, wobei sie sich mit koordinierten Beinbewegungen abstieß.

Ingo Rechenberg will die besonderen Fähigkeiten der rollenden Spinne nutzen. Der Ingenieur ist Experte für Bionik, ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das nach natürlichen Vorbildern für technische Entwicklungen sucht. "Gerade Wüsten sind da wahre Fundgruben", sagt Rechenberg. Denn in diesem unwirtlichen Lebensraum müssten sich Tiere besonders effizient anpassen. Die noch unbenannte rollende Spinne hat Rechenberg seit ihrer ersten Begegnung immer neue Kostproben ihres Talents geliefert. Sie kann vorwärts wie rückwärts über den Sand wirbeln und sogar bergauf: Steigungen von bis zu 20 Grad überwindet sie problemlos. Der Vorteil der Rollbewegung: Die Spinne verbraucht dabei nur halb so viel Energie wie beim Laufen.

Womöglich, so hofft Rechenberg, könnten auf dieser Grundlage neuartige Fahrzeuge gebaut werden, etwa für Marsmissionen. Deshalb hat er die Technik nachgebaut. Das Ergebnis ist "Tabbot", benannt nach dem Berber-Wort "Tabacha" für "Spinne". Der kleine Roboter hat etwa die Größe eines Frühstückstellers und sieht aus wie ein Mini-Rhönrad mit drei abgerundeten Ecken. Der Prototyp besitzt drei voneinander unabhängige, motorgetriebene Beine, die nacheinander ausklappen. Ein Sensor sorgt dafür, dass sich jedes davon so lange abstößt, bis Tabbot ein Stück vorwärts gekommen ist. Erst dann kommt das nächste an die Reihe.

Seit Anfang Juni ist Rechenberg wieder in der Wüste Marokkos unterwegs - dieses Mal, um den Prototyp zu testen. So geschickt wie sein natürliches Vorbild ist der Roboter zwar noch nicht. Und auch mit dem Rückwärtsrollen ist er noch überfordert. Trotzdem sind seine Konstrukteure schon recht zufrieden mit ihm. Denn die ungewöhnliche Form der Fortbewegung hat durchaus ihre Vorteile. "Es gibt zwar schon Roboter, die auf sechs oder acht Beinen laufen", sagt Ingo Rechenberg. Die sind allerdings nicht nur sehr langsam, sondern auch schwer zu steuern. Die meisten Konstruktionen, die für einen Einsatz im Gelände gedacht sind, bewegen sich daher nach wie vor auf konventionellen Rädern.

Doch auch das hat seine Tücken. So blieben die kleinen Erkundungsfahrzeuge, die Planetenforscher auf den Mars geschickt haben, mit ihren sechs Rädern regelmäßig im Sand stecken. "Das würde Tabbot nicht passieren", sagt Rechenberg. Denn der Spinnenroboter verbindet die Vorteile von Rollen und Beinarbeit und kann sich mangels durchdrehender Räder nicht im weichen Untergrund festfahren.

Auch andere Produkte der Bionik-Forschung will Ingo Rechenberg während seiner Wüstentour einem Härtetest unterziehen. Zum Beispiel Kunststoff-Folien, die der Haut von Sandfischen nachempfunden sind. Wenn diese kleinen Echsen reglos dasitzen, könnte man sie mit ihrer glatten, glänzenden Haut für Porzellanfiguren halten. Doch sobald sie sich bedroht fühlen, verschwinden sie blitzschnell im Sand und bewegen sich dann sehr geschickt unter der Oberfläche. Dabei ist ein glatter Körper entscheidend, weil er weniger bremsende Reibungskräfte erzeugt. Tatsächlich zeigen Versuche der Berliner Forscher, dass der Sand von der Reptilienhaut viel besser abrutscht als etwa von einer Stahloberfläche.

Fragt sich nur, wie die Tiere überhaupt so glatt bleiben können. Eine Plastikflasche verliert im schmirgelnden Wüstensand in nur einer Woche jeden Glanz. Ein Sandfisch nicht.

Um die Ursache dieses Phänomens zu ergründen, hat Rechenberg ein paar der kleinen Echsen mit nach Berlin genommen. Praktischerweise streifen die Tiere beim Wachsen ihre zu klein gewordene Haut ab. Unter dem Elektronenmikroskop haben die Bioniker auf diesen Hüllen scharfe Grate entdeckt, die quer zum Körper verlaufen. Diese sind so fein, dass sie die vergleichsweise riesigen Sandkörner nicht bremsen. Sie befreien den Sand aber wie eine Bürste von den mikroskopisch kleinen Partikeln, die jedes Korn überzuckern und die für die schleifende Wirkung verantwortlich sind. "Das ist ein ganz einfacher mechanischer Prozess", sagt Rechenberg. "Aber es hat Jahre gedauert, bis wir dahintergekommen sind."

Etliche Firmen versuchen, die Struktur der Sandfischhaut auf Kunststoff-Folien zu übertragen. Denn die Industrie hat großes Interesse an Oberflächen, die der Schmirgelwirkung des Sandes widerstehen. So sollen etwa beim Desertec-Projekt künftig in großem Stil Solaranlagen in Wüstenregionen entstehen. "Wenn die eingesetzten Parabolspiegel schon beim ersten Sandsturm stumpf werden, kann man das natürlich vergessen", sagt Rechenberg. Vielleicht könnte eine durchsichtige Folie mit Sandfisch-Rippen solche Schäden verhindern.

Doch Ingo Rechenberg will in der Wüste nicht nur die Früchte seiner bisherigen Arbeit testen, er hofft auch auf neue Entdeckungen. Schon lange faszinieren ihn etwa die metallisch schimmernden Silberameisen, die unbeeindruckt selbst durch 70 Grad Celsius heißen Sand eilen. Wie halten sie das aus? Liegt das an ihrer silbrigen Oberfläche, die das Sonnenlicht besonders gut reflektiert? Die Wüste steckt noch voller Rätsel. Und zumindest ein paar davon will Ingo Rechenberg noch lösen.