In einer Nacht wurden in der Grenzregion von Brandenburg zu Mecklenburg 15 Schafe gerissen. Was treibt Raubtiere zu Massentötungen?

Kieve/Wittstock. Ein erwachsener Wolf braucht täglich etwa zwei bis drei Kilogramm Fleisch. Allerdings kann er auch bis zu elf Kilogramm auf einmal fressen. Doch was will er mit 15 Schafen in einer Nacht? Im Landkreis Müritz, in der Grenzregion von Brandenburg zu Mecklenburg, hat ein einzelner Wolf in der Nacht zum 8. Februar genau diese Anzahl an Schafen in einem Gatter gerissen. "Das ist bei Beutegreifern so, sie haben keinen Stopp-Mechanismus eingebaut", sagt Wildbiologin Ilka Reinhardt. Am Hunger liegt es dabei nicht: Gefressen hat der Wolf nur einen Bruchteil seiner Beute.

Es ist bereits der fünfte Wolfs-Übergriff in der Region seit Mitte 2010. Zuvor wurden Tiere in drei Damwildgehegen und vor knapp zwei Wochen in einer Rentierherde getötet. Dabei gehen die Biologen davon aus, dass es sich um denselben Wolf handelt. "Beim Monitoring der Wölfe wurde bisher nur ein Tier in dieser Region gesichtet", sagt Ilka Reinhardt, die mit ihrer Kollegin Gesa Kluth das Wildbiologische Büro "Lupus" im sächsischen Spreewitz leitet, die Hauptstelle für die deutsche Wolfsforschung.

Die Biologin findet es interessant, dass der Wolf in verschiedene Wildgatter eingedrungen ist: "Wölfe spezialisieren sich sonst gerne, wenn sie einmal leichte Beute gemacht haben." Das trifft im Freiland auf bestimmte Tierarten zu, kann aber bei Haustieren auch die Art der Haltung sein. Reinhardt: "Wölfe sind wirklich findig, was das angeht. Sie graben sich unter Zäunen durch oder entdecken schon kleine Schwachstellen im Zaun, um einzudringen. Seltener springen sie über Barrieren hinweg. Aber sie lernen herauszufinden, wo Zäune niedriger sind oder vielleicht nicht unter Strom stehen, und wenn sie das einmal wissen, ist die Gefahr groß, dass sie wiederkommen."

Sind sie einmal in ein Gehege eingedrungen, reißen sie meist alles, was sich bewegt. "In der Natur passiert es ja äußerst selten, dass sie so viele Beutetiere vor der Nase haben, die nicht wegkönnen", sagt Dr. Ingrid Wiesel. Die Hamburger Zoologin arbeitet seit 16 Jahren an Braunen Hyänen in Namibia und hat besonders deren Jagdverhalten an Robbenkolonien entlang der Küste untersucht. Auch hier kommt es immer wieder zu Massentötungen von Hyänen an Robbenjungen: "Dabei ist die Bewegung der Stimulus für die Tötung - bleibt das Robbenbaby still liegen, geht die Hyäne meist daran vorbei."

Dieses Phänomen kennen Landwirte auch vom Fuchs im Hühnerstall: Flattern die Tiere in Panik umher, agiert der Räuber in einer Art "Blutrausch". "Die normale Abfolge von Hunger spüren, auf Nahrungssuche gehen, Beute machen, fressen, ruhen und nicht wieder zuschlagen, bevor man wieder Hunger verspürt, greift dabei nicht", sagt Wiesel. Durch die Bewegung der weiteren Beutetiere, die unter normalen Umständen längst entkommen wären, wird der Tötungstrieb aufrechterhalten. In Namibia konnte sie das Verhalten bei den Hyänen meist nur in Nächten mit extremen Wettersituationen wie zum Beispiel Neumond oder dichter Nebel beobachten, die die Beutetiere an der Flucht hinderten. Bei Wölfen, die Haustiere reißen, spielt dabei die menschengemachte Situation eine Rolle, sagt Reinhardt: "Schafen wurde der Fluchtinstinkt abtrainiert, damit sie besser zu hüten sind. Damit sind sie aber auch eine leichtere Beute."

Bei Nahrung im Überfluss werden die Räuber wählerisch. "Wir haben es bei mehreren Wölfen erlebt, dass sie ein Beutetier ganz fraßen, und von zwei, drei weiteren nur noch die Filets", sagt Reinhardt. Aber auch eine Tendenz zur Vorratshaltung werde sichtbar: Oft hätten die Wölfe Tiere weggeschleppt oder vergraben. Haben die Braunen Hyänen im Überfluss zugeschlagen, fräßen sie oftmals nur noch gezielt das Gehirn der jungen Robben, sagt Ingrid Wiesel: "Energiereiches Gewebe, ähnlich wie Bären bei wandernden Lachsen irgendwann nur noch den Kaviar fressen."

In Mecklenburg sprechen Tierhalter derweil bereits von dem Wolf, der seit zwei Jahren in der Kyritz-Ruppiner Heide lebt als "Problemtier" und fordern, ihn einzufangen und in einem weniger besiedelten Gebiet auszusetzen. Davon hält Ilka Reinhardt wenig: "Dann übernimmt ein neuer Wolf das Revier." Die Schadensserie zeige klar, dass es nicht wichtig ist, wie viele Wölfe in einem Gebiet leben, sondern wie gut der Herdenschutz ist. Wo dieser durch intakte Elektrozäune oder speziell ausgebildete Herdenschutzhunde gegeben sei, gebe es so gut wie keine Übergriffe von Wölfen.

Ein Elektrozaun habe die 15 Schafe in Kieve umgeben, sagt Norman Stier, Wildbiologe der TU Dresden, der den "Managementplan Wolf" für das Land Mecklenburg-Vorpommern verfasst hat. "Wir wissen noch nicht, wie der Wolf in das Gatter gekommen ist." Der Zaun sei niedergedrückt gewesen, aber das hätte auch erst durch die aufgescheuchten Schafe passiert sein können. Auch Stier hofft, dass durch einen besseren Schutz der Herden die "Erfolgsserie" des Wolfs abreißt: "Wenn er einen gewischt bekommen hat, überlegt er sich vielleicht, ob nicht doch das Reh im Wald die leichtere Beute ist."