Eine Analyse des menschlichen Genoms entschlüsselte Strukturvarianten, die an der Entstehung von Erbkrankheiten beteiligt sind.

Hamburg. Das Erbgut ist die Grundlage unserer Existenz. Doch ganze Abschnitte in diesem "Buch des menschlichen Lebens" mit seinen 3,1 Milliarden Basenpaaren und 25 000 Genen sind von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Diese sogenannten Strukturvarianten können harmloser Natur sein, sich aber auch auf Funktionen in den Zellen auswirken und an der Entstehung von Erbkrankheiten beteiligt sein. Wie zahlreich diese Variationen sind, hat jetzt ein internationales Forscherteam herausgefunden.

Eine Untersuchung von Daten aus 185 menschlichen Genomen, deren Sequenz im Rahmen des 1000-Genomes-Projektes analysiert wurde, ermöglichte die Entschlüsselung der genetischen Sequenz von 28 000 bislang unbekannten Strukturvarianten (SVs). "Besonders oft finden wir solche Häufungen, auch Hotspots genannt, an Stellen des Genoms, an denen die Kette der Nukleinsäuren mit den Erbinformationen, die DNA, aufbricht und sich wieder neu zusammensetzt. Zum Beispiel, wenn sich im Rahmen der Befruchtung der mütterliche und der väterliche Chromosomensatz zu dem neuen Chromosomensatz des Kindes zusammensetzen. Es hat sich aber auch gezeigt, dass in Regionen mit lebensnotwendigen Genen relativ selten solche Strukturvarianten auftreten", sagt Dr. Jan Korbel.

Er ist Arbeitsgruppenleiter am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg, das zusammen mit Wissenschaftlern des Wellcome Trust Sanger Instituts aus Cambridge (Großbritannien), der University of Washington und der Harvard Medical School in den USA die Studie durchgeführt hat. Heute werden die Ergebnisse der Untersuchung in "Nature" veröffentlicht und könnten, so die Hoffnung der Wissenschaftler, dazu beitragen, die genetischen Ursachen einer Reihe von Krankheiten zu entschlüsseln, und bei der Aufklärung der Frage helfen, weshalb sich bestimmte Abschnitte des menschlichen Genoms schneller verändern als andere.

Strukturvarianten entstehen dadurch, dass bei einer neuen Zusammensetzung des Genoms Teile der DNA aus dem Erbgut entfernt (Deletion) oder zusätzlich eingefügt (Insertion) werden können. So fanden die Forscher mehr als 1000 Strukturvarianten, die DNA-Sequenzen von einem oder mehreren Genen unterbrechen. Da viele solcher das Erbgut verändernden Mutationen vermutlich im direkten Zusammenhang mit Krankheiten stehen, hilft das Wissen über die genaue Sequenz von SVs Genetikern bei der Suche nach krankheitsauslösenden Mutationen.

Die Bandbreite der Auswirkungen ist groß - je nach Ort und Ausmaß der Veränderungen. "So weiß man, dass Strukturvarianten die Anfälligkeit für Viruserkrankungen, Krebsleiden und Autismus erhöhen. Und in einigen Hotspots scheint die DNA so instabil zu sein, dass ganze Kapitel aus diesem 'Buch des Lebens' wegbrechen, was dann zu schweren Erbkrankheiten führen kann", sagt Korbel. Als Beispiel nennt er das Miller-Dieker-Syndrom, eine angeborene Hirnkrankheit, die zum plötzlichen Kindstod führen kann.

Aber die Strukturvarianten betreffen nicht nur die Gene selbst, sondern auch die Bereiche der DNA, die für die Steuerung der Gene zuständig sind. "Solche Varianten werden häufig vom Körper toleriert, ohne dass es zu krankhaften Veränderungen kommt. Dafür wird das Gen dann häufig nicht mehr zu 100 Prozent genutzt, sondern teilweise außer Kraft gesetzt", erklärt Korbel.

Es kann auch passieren, dass Veränderungen in der Steuerung dazu führen, dass ein Gen sozusagen überaktiv wird. Als Beispiel nennt der Molekularbiologe eine Studie von Kollegen, die herausgefunden haben, dass Strukturvarianten bestimmen, wie gut ein Mensch Stärke verdauen kann. Diese Fähigkeit ist davon abhängig, wie gut die Produktion des Enzyms Amylase im menschlichen Speichel funktioniert. Und diese kann bei einigen Menschen um das Zwanzigfache erhöht sein. So stellte sich in der Studie heraus, dass Europäer und Asiaten Stärke besonders gut verdauen können, diese Fähigkeit aber beispielsweise bei Einwohnern Yakutiens nur gering ausgeprägt ist.

"Möglicherweise werden unsere Resultate auch verstehen helfen, weshalb manche Menschen bis ins hohe Alter gesund bleiben, während andere bereits in jungen Jahren Krankheiten entwickeln", sagt Korbel. "Es gibt eine Vielzahl von strukturellen Varianten in unserem Genom, und mehr und mehr zeigt sich, dass diese in vielschichtiger Weise unsere Gesundheit beeinflussen. Neuartige, ultraschnelle Technologien, die vor Kurzem in der DNA-Sequenzierung eingeführt worden sind, machen diese wichtige und umfassende Charakterisierung von genetischer Variation im Menschen erst möglich", kommentiert Charles Lee, Professor an der Harvard Medical School und einer der Studienleiter, die Ergebnisse.

In einer ersten Auswertung des 1000-Genomes-Projektes, in der die Gensequenz von 179 Menschen analysiert wurde, berichtete 2010 das Wellcome Trust Sanger Institute in Cambridge in "Nature" von 250 bis 300 genetischen Abweichungen für die Zellfunktion und 50 bis 100 Varianten, die mit Erbkrankheiten in Zusammenhang gebracht werden. "Wir haben eine ähnlich große Anzahl von Varianten mit solchen Konsequenzen in unserer Studie gefunden, zusätzlich allerdings auch die genaue DNA-Sequenz sehr vieler kleiner und großer Varianten ermitteln können, weil wir mit Technologien und Computerprogrammen gearbeitet haben, die eine sehr hohe Sensitivität hatten", sagt Korbel. Das 2008 gestartete 1000-Genomes-Projekt hat zum Ziel, bis 2012 einen detaillierten Katalog humangenetischer Variationen zu erstellen. "Dieser Katalog soll dann die Grundlage für weitere krankheitsbezogene Forschungen bilden", sagt Korbel.