Am Südpol starten Forscher den größten Teilchendetektor der Welt. Er soll Neutrinos aus fernen Galaxien aufspüren

Hamburg. In Gedanken ist Christian Spiering jetzt am Südpol. Denn dort geht ein Traum in Erfüllung, für den der 62-jährige Physiker 20 Jahre lang gearbeitet hat: Unweit der Amundsen-Scott-Forschungsstation wird heute das letzte Modul eines gigantischen Würfels versenkt, der sich über einen Kubikkilometer erstreckt - tief im ewigen Eis. IceCube, so der Name der Anlage, soll Teilchen aus den Weiten des Universums aufspüren, die bisher weitestgehend unbemerkt auf die Erde treffen: hochenergetische Neutrinos.

IceCube entstand durch einen Kraftakt von 36 Forschergruppen aus acht Ländern; Christian Spiering und sein 15-köpfiges Team vom Standort Zeuthen des Deutschen Elektronen-Synchrotons (Desy) südöstlich von Berlin haben einen Teil der Lichtsensoren für IceCube entwickelt, sozusagen die Augen des Detektors. "Wir öffnen damit ein neues Fenster zum Universum", sagt Spiering.

Doch warum steht die Hightech-Anlage ausgerechnet am eisigen Ende der Welt, inmitten einer weißen Wildnis, wo die Temperatur im Jahresmittel etwa minus 50 Grad Celsius beträgt und die Sonne nur von September bis März scheint? "Weil die Bedingungen dort für unser Vorhaben besser nicht sein könnten", sagt Spiering. Das Eis am geografischen Südpol ist bis zu 3000 Meter dick und in der Tiefe nahezu frei von Verunreinigungen. "Diese hochtransparenten Schichten dienen uns als Medium, um Lichtblitze zu messen. Dabei müssen wir in einem möglichst großen Gebiet messen, weil das, was wir suchen, extrem selten ist."

Neutrinos also - was hat es mit den geheimnisvollen Teilchen auf sich? Aus dem All prasseln unablässig ultrakleine Teilchen auf die Erde, etwa Photonen (Lichtteilchen), Heliumkerne, Protonen - und Neutrinos. In der Atmosphäre stoßen sie sogenannte sekundäre Teilchen an, die nun - gewissermaßen als verlängerter Arm der Primärteilchen - in die Erde eindringen und dort absorbiert werden. Diese kosmische Strahlung hat das Erbgut der Erde über Jahrmillionen beeinflusst, sie ist ein Motor der Evolution, so nehmen es Forscher zumindest an.

Die Teilchen könnten auch Auskunft über die Entstehung und Beschaffenheit des Universums geben. Doch hier liegt das Problem: Während die meisten der kosmischen Boten aus entfernten Galaxien leicht in Materialwolken stecken bleiben oder durch Magnetfelder von ihrer Bahn abgelenkt werden, sodass ihr Ursprung nicht mehr feststellbar ist, bleiben Neutrinos nahezu unbeeinflusst, was es möglich macht, anhand ihrer Eigenschaften auf ihre Quelle zu schließen.

Neutrino ist allerdings nicht gleich Neutrino: Es gibt einerseits die niederenergetischen unter ihnen, ausgespuckt etwa von der Sonne, die nur acht Lichtminuten von der Erde entfernt ist. Durch die Messung dieser Sonnenneutrinos haben Physiker bestätigt, dass Fusionsreaktionen in unserem Zentralgestirn exakt so ablaufen, wie es theoretisch vorhergesagt wurde. Niederenergetische Neutrinos können aber auch erst in der Erdatmosphäre entstehen.

Andererseits gibt es die hochenergetischen Neutrinos, "und auf die sind wir scharf", sagt Christian Spiering, "weil sie aus Regionen stammen, etwa aus der Umgebung schwarzer Löcher oder aus explodierten Sternen, die Millionen oder gar Milliarden Lichtjahre von uns entfernt sind. Informationen über diese Quellen könnten uns helfen, den Kosmos besser zu verstehen." Doch aufgrund dieser gewaltigen Entfernungen landen hochenergetische Neutrinos eben nur selten auf der Erde.

Ihnen sollte schon Amanda auf die Spur kommen, das Vorgänger-Modell von IceCube. Tatsächlich gelang es mit der seit 2000 am Südpol installierten Anlage, die Energie und Richtung von etwa 10 000 Neutrinos zu rekonstruieren. Allerdings dürften sie fast alle in der Erdatmosphäre entstanden sein. Deshalb soll nun die 30-mal größere Anlage IceCube am gleichen Ort Teilchen erfassen, die aus Regionen außerhalb unseres Sonnensystems stammen.

Dazu haben die Forscher in den Eispanzer 86 Löcher mit 60 Zentimeter Durchmesser geschmolzen und darin Stahltrossen versenkt. An jeder Trosse hängen in der Tiefe zwischen 1450 und 2450 Meter 60 Glaskugeln mit Lichtsensoren, aufgereiht wie an Perlenschnüren, insgesamt 5160 aufmerksame Beobachter, die zusammen ein Neutrinoteleskop der Superlative bilden.

Die Sensoren verstärken die Strahlung, die sie empfangen, wandeln die Signale in elektrische Impulse um und übersetzen sie in digitale Daten. Dazu verfügen alle Kugeln über einen eigenen Computer und eine Präzisionsuhr, um die Ankunftszeit der Teilchen auf die Milliardstelsekunde genau zu messen. Über kilometerlange Kabel gelangen die Daten dann zur überirdischen Station des IceCube-Teams.

Aber wie können die Forscher Neutrinos von anderen Teilchen und niederenergetische von hochenergetischen Neutrinos unterscheiden? Die Sensoren empfangen keine Signale, die von oben, also durch das Eis kommen, sondern richten ihre Aufmerksamkeit ganz auf Teilchen, die ihnen von unten entgegenrasen, also aus dem Weltraum von der anderen Seite in die Erde eingedrungen sind und dabei mühelos fast 10 000 Meter Materie durchquert haben. Das können nur Neutrinos sein, alle anderen Teilchen bleiben vorher auf der Strecke. "Wir benutzen die Erde als Filter", sagt Christian Spiering.

Stößt ein Neutrino nun auf einen Atomkern im Südpoleis, entsteht dadurch ein Myon, ein Teilchen, das in Eis oder Wasser bläuliches Licht verursacht, die sogenannte Cherenkov-Strahlung. Das Myon rast nun anstelle des Neutrinos weiter. Seine Bahn zeichnen die Sensoren in den Glaskugeln auf. Daraus können die Forscher dann die Richtung des Verursacher-Neutrinos berechnen. Und anhand des Energiespektrums des Myon-Lichts können sie feststellen, ob es sich bei dem Verursacher um ein nieder- oder ein hochenergetisches Neutrino handelte.

Ab Januar 2011 soll IceCube Daten liefern; einen Teil davon werden Spiering und sein Team am Desy in Zeuthen analysieren. 279 Millionen US-Dollar, umgerechnet 210 Millionen Euro, hat der Riesenwürfel im Eis gekostet, finanziert überwiegend aus staatlichen Mitteln der beteiligten Länder. Das entspricht etwa fünf Prozent der Kosten für das Hubble-Weltraumteleskop. "Trotzdem fragt man sich manchmal, ob diese Kosten gerechtfertigt sind", sagt Spiering. Das Vorhaben gleiche der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhafen - und berge auch das Risiko zu scheitern. "Mit etwas Glück können wir pro Jahr einige 100 hochenergetische Neutrinos nachweisen."

Das macht selbst den Forscher kurz nachdenklich. "Aber", sagt Spiering, "wir betreten experimentelles Neuland. Und genau das ist nötig, um große Entdeckungen zu machen."

Video: Mit dem "IceCube" auf Neutrinojagd

Quelle: National Science Foundation