Eine Studie räumt mit der Vorstellung auf, dass Realität und Traumgeschehen korrespondieren. Im Schlaf kreieren wir eine Welt für sich.

Bonn. Traumdeutung gilt als Volkssport: Wer das Wort googelt, stößt auf etwa 363 000 Treffer. Überall gibt es Traumgruppen, deren Mitglieder Traumtagebücher führen und versuchen, die eigenen Träume zu interpretieren. Denn die meisten Menschen glauben, dass Träume gerade die Fragen widerspiegeln, die für unsere Lebenssituation wichtig sind.

Nach einer neuen Studie verraten Träume darüber aber eher wenig. Sogar schwere körperliche Beeinträchtigungen oder einschneidende Erlebnisse spielen kaum eine Rolle. Das fanden Forscherinnen und Forscher der Universität Bonn, der Frankfurter Goethe-Universität und der Harvard Medical School in einem ungewöhnlichen Versuch heraus: Sie verglichen die Träume von taubstumm und gelähmt geborenen Menschen mit denen von Menschen ohne Handicap. Über die Ergebnisse berichten sie jetzt in der Zeitschrift "Consciousness and Cognition".

An der Studie nahmen 36 nicht behinderte Studenten der Uni Bonn, vier Gehörlose des Deutschen Gehörlosen-Bundes und zehn Querschnittsgelähmte eines Internats teil. Sie führten über mehrere Wochen Traumtagebücher und hielten darin ihre Traumerinnerungen fest. So kamen insgesamt rund 350 detaillierte Traum-Beschreibungen zusammen, die von den Forschern ausgewertet wurden.

"Wir wollten wissen: Träumen wir von Veränderungen unseres Körpers, bauen wir Behinderungen in unsere Träume ein?", sagt Dr. Ursula Voss vom Psychologischen Institut der Uni Bonn. "Die Grundfrage, die dahintersteht, ist natürlich: Ist der Traum etwas, mit dem wir auf die Welt kommen, das unser Wachleben reflektiert, oder ist der Traum eine eigene Welt?"

Zu ihrer eigenen Überraschung stellten die Forscher fest, dass sich die Träume ihrer gehandicapten Probanden kaum von denen der nicht gehandicapten unterschieden. Behinderungen spielten kaum eine Rolle: Im Traum konnten Gelähmte gehen, schwimmen, klettern und rennen, Gehörlose kommunizierten nicht in der Gebärdensprache, sondern hörten und sprachen. "Wir haben die Probanden nach den Träumen noch befragt", sagt Voss. "Mehrere erzählten, sie hätten im Traum sogar Fremdsprachen gesprochen, die sie nie gelernt hatten."

Für Ursula Voss ist das ein Hinweis darauf, dass wir im Traum viel mehr Kompetenzen erleben können, als uns im Wachleben zur Verfügung stehen. "Wenn die sprachlichen Areale in unserem Gehirn angelegt sind, kann sich das Gehirn eine sprachliche Kommunikation vorstellen, egal ob sie angewendet wird oder nicht."

Unsere Träume bilden nicht nur individualpsychologisches Geschehen ab und auch nicht nur fantastische Einbildungen - etwa, dass wir fliegen können. Die Forscher glauben, dass das Gehirn im REM-Schlaf (REM: Rapid Eye Movement, Schlafphase mit schnellen Augenbewegungen) phylogenetische Kompetenzen abspult, also solche, die die Gattung Mensch in der Evolution erworben hat.

Individuelle Behinderungen spielen dabei keine Rolle. Im Nachhinein konnten hinzugebetene Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeuten anhand der Traumberichte nicht sagen, welche von behinderten und welche von nicht behinderten Träumenden stammten.

Gerade wegen der fantastischen Möglichkeiten hat die Welt des Traums die Menschen immer schon fasziniert. In der Antike enthielten sie angeblich Prophezeihungen. Sigmund Freud interpretierte das Traumgeschehen in seiner Tiefenpsychologie als eine wichtige Informationsquelle über unsere unbewussten, verborgenen und verbotenen Wünsche.

Die Psyche verkleidet diese Wünsche in (Traum-)Bilder, die ein Analytiker in der Psychoanalyse aufdecken kann, legte Freud in "Die Traumdeutung" (1900) dar. Sein Schüler Carl Gustav Jung erkannte in den Träumen vieler Patienten ähnliche Symbole, die er als "archetypisch" bezeichnete und ihnen feste Bedeutungen zuwies.

In der modernen Hirnforschung sind solche Deutungsmethoden allerdings umstritten. Die neuronalen und kognitiven Vorgänge im Gehirn während des Schlafs können auch eine an sich "sinnlose" Bilderabfolge erzeugen. Wollen Träume uns überhaupt etwas sagen? Dienen sie der unbewussten Entlastung, geben sie uns Orientierung? Oder findet im Schlaf nur eine beliebige Sortierung irgendwelcher Eindrücke statt?

"Unsere Studien zeigen: Wenn wir einen Probanden direkt aus dem Traumschlaf aufwecken und befragen, dann ist das geschilderte Traumgeschehen sehr bizarr und wenig sinnhaft", sagt Voss. "Vielleicht können wir es aber nicht gut vertragen, dass wir im Schlaf etwas Sinnloses tun, und bemühen uns deshalb, es bestimmten Erlebnissen zuzuordnen."

Sie vergleicht den Traum mit einer Party, auf der alle durcheinander-, aber nicht miteinander reden. Dadurch sind wir von sinnvollen, angestrengten Redebeiträgen entlastet und können neue Verbindungen knüpfen - spielerisch, und nicht unter dem Zwang eines Zwecks.

In den 350 untersuchten Traumgeschichten der Probanden fanden sich keine signifikanten Übereinstimmungen. Keine bedrohlichen Schlangen, übermächtigen Vaterfiguren oder gewetzten Messer. Die meisten Träume handelten von Belanglosem: Einkaufen, irgendwohin fahren, Familienszenen. Für Voss ist klar: "Träume sind eine eigene Welt." In einer Anschlussstudie wollen die Forscher nun genauer herausfinden, wie Traumhandlungen und reale Erlebnisse zusammenhängen.