Forscher untersuchen, warum Insekten auf Blättern einen so sicheren Halt haben. Feine Härchen an den Füßen verbessern die Haftung.

Kiel. Tomatenpflanzen sind ziemlich raffinierte Gegner. Zumindest aus Blattlaus-Sicht. Denn die Nachtschattengewächse haben ihre Oberfläche mit tückischen Haaren bestückt, an deren Spitze jeweils ein kleines Köpfchen sitzt. Sobald eine unvorsichtige Laus dagegenstößt, platzt diese Vorrichtung auf und setzt eine Art Sekundenkleber frei, der den krabbelnden Feind blitzschnell außer Gefecht setzt. Den Unbeständigen Schmalhans beeindruckt dieser Trick allerdings nicht. Unbeschadet läuft die räuberische Weichwanze über die gefährlichen Blätter und fängt diejenigen Läuse, die der Tomate noch nicht auf den Leim gegangen sind.

"Da fragt man sich natürlich, warum die Wanzen nicht auch festkleben", sagt Dagmar Voigt vom Zoologischen Institut der Universität Kiel. Unter der Leitung von Prof. Stanislav Gorb untersuchen sie und ihre Kollegen unter anderem die Wechselwirkungen zwischen Pflanzenoberflächen und Insektenfüßen. Sie wollen verstehen, auf welchen Blättern und Stängeln die Krabbeltiere besonders gut laufen können und auf welchen nicht. Das ist nicht nur spannend, wenn man sich für die Evolution und die Überlebensstrategien von Insekten interessiert. Auch für den Pflanzenschutz liefern die Ergebnisse der Kieler Forscher neue Ideen.

Die Tricks des Unbeständigen Schmalhans kennt Dagmar Voigt inzwischen: "Er hat sehr lange, dünne Beine, mit denen er wie eine Primaballerina über die Pflanzenhaare stolziert." Zudem sind seine Füße mit speziellen Krallen ausgerüstet, die ihm auf behaarten Blättern besonders guten Halt verleihen.

Ein Blick auf die Füße lohnt sich auch bei anderen Insektenarten. Denn die Krabbeltiere haben sehr effektive Methoden gefunden, um überall die glatten oder rauen, schmierigen oder klebrigen Oberflächen zu laufen, mit denen Pflanzen ihre Blätter vor Feinden zu schützen versuchen. Blattkäfer zum Beispiel haben unzählige feine Härchen unter ihren Füßen, die sie vor dem Ausrutschen und Abstürzen bewahren. Deren mikroskopisch dünne Spitzen bringen die Tiere in engen Kontakt mit der Blattoberfläche, sodass jedes Haar zur Haftung beiträgt. Und da sich Zahl, Größe und Form dieser Strukturen bei den einzelnen Arten unterscheiden, kann sich je nach Pflanzenoberfläche mal der eine Käfer besser festhalten und mal der andere.

Wie stark die Haftkräfte jeweils sind, testen die Kieler Forscher im Labor. Oft müssen die sechsbeinigen Kandidaten dabei Karussell fahren: Sie sitzen auf einer rotierenden Trommel, die nach und nach bis auf 3000 Umdrehungen pro Minute beschleunigen kann. Sensoren und Lichtschranken messen, bei welchen Geschwindigkeiten die Passagiere abgeworfen werden. Aus diesen Werten lässt sich berechnen, welche Haftkraft die Insektenfüße entwickeln und welche Gewichte die Tiere damit halten können.

"Dabei zeigen einige Arten ganz erstaunliche Leistungen", sagt Dagmar Voigt. Manche Exemplare des bis zu 40 Milligramm schweren, metallisch schimmernden Grünen Sauerampferkäfers (auch Ampfer-Blattkäfer genannt) halten zum Beispiel auf einer glatten Glasoberfläche mehr als das 200-Fache ihres Körpergewichts. Und auch andere Arten wären die Stars in jedem Fitnessstudio. So bringen es die deutlich schwereren Kartoffelkäfer im Durchschnitt immerhin auf das 70-Fache ihres Körpergewichts, einige schaffen sogar mehr als das Hundertfache.

Auch unter Artgenossen sind die Kräfte also durchaus unterschiedlich verteilt. Die Herkunft eines Tieres kann die Leistung im Karussellwettbewerb ebenso beeinflussen wie seine persönliche Fitness. Auch das Geschlecht spielt eine Rolle. "Auf glatten Oberflächen schneiden in der Regel die Männchen viel besser ab", sagt Voigt. Die haben nämlich nicht nur die üblichen Haftstrukturen unter den Füßen, sondern zusätzlich noch andere Haartypen. Offenbar braucht das starke Geschlecht diese Spezialvorrichtungen für eine ganz besondere Anforderung: Bei der Paarung müssen sich die Männchen auf den glatten Flügeldecken ihrer Partnerinnen festhalten. Sonst riskieren sie noch vor vollbrachter Tat einen unsanften Absturz.

Solche Erkenntnisse würden die Kieler Zoologen gern für den Pflanzenschutz nutzen. Schließlich richten die Kartoffelkäfer und Kollegen auf Feldern und in Gewächshäusern häufig Schäden an. Vielleicht lassen sich die gefräßigen Sechsbeiner an der Paarung hindern, indem man gefährdete Pflanzenkulturen mit einem harmlosen Puder bestäubt. Der würde die glatten Flügel der Weibchen stumpf machen, sodass die Füße der Männchen nicht mehr dazu passen. Ende des Käfer-Liebesspiels.

Dagmar Voigt und Kollegen haben noch weitere Ideen, wie man die Ergebnisse ihrer Forschung zur Schädlingsbekämpfung nutzen könnte. So schweben ihnen Pflanzen vor, die eine Art natürliche Antihaftbeschichtung haben. Wenn das gefräßige Insekt auf dem Blatt keinen Halt findet, kann es nicht daran fressen. Also testen die Forscher auf ihrem Insektenkarussell, wie Kartoffelkäfer oder Rapsglanzkäfer mit verschiedenen Oberflächen zurechtkommen. Die Tiere haben dabei Kunstharzstücke unter den Füßen, deren Rauigkeit sich von Versuch zu Versuch unterscheidet. So lässt sich herausfinden, wo sich die Insekten am schlechtesten festhalten können. "Wenn wir das wissen, können wir nach Pflanzen mit ähnlichen Oberflächen suchen", erklärt die Kieler Biologin.

Genügend Auswahl steht dabei zur Verfügung. Von den meisten Kulturpflanzen gibt es zahlreiche Sorten, die sich auch im Design ihrer Blätter unterscheiden. Rosenblätter zum Beispiel können behaart sein oder kahl, manche sind mit kleinen Wachsplättchen versehen und andere nicht. Aus dieser Vielfalt lassen sich womöglich Sorten züchten, die Insekten das Laufen erschweren oder sie abstürzen lassen.

"Um das zu erreichen, müsste man bei der Auswahl von Zuchtpflanzen eben nicht nur auf Kriterien wie Geschmack, Ertrag oder Blütenfarbe achten, sondern auch auf die Blattoberflächen", sagt Voigt. Noch ist das Zukunftsmusik. Doch je besser die Forscher die Tricks der krabbelnden Haftkünstler durchschauen, umso näher rückt die praktische Anwendung. Die Kartoffelkäfer künftiger Generationen könnten es noch bereuen, dass ihre Ahnen ihre Geheimnisse nicht besser gehütet haben.

Video: Patentlösungen - Lernen von den Fliegen

Quelle: Max-Planck-Gesellschaft

Video: Der Klettverschluss der Zukunft

Quelle: Max-Planck-Gesellschaft