Wo bald Gasleitungen laufen, gruben Forscher Schätze aus 10 000 Jahren aus

Wiligrad. In einem Jahr soll russisches Erdgas durch die Ostsee-Gasleitung nach Deutschland fließen. Von Lubmin bei Greifswald aus wird es nach Süden durch die sogenannte Opal- und nach Westen durch die Nel-Leitung weitergeleitet. Bevor jedoch die Rohre dort verlegt werden, schlägt die Stunde der Archäologen: Entlang der 470 Kilometer langen Opal-Baustelle haben sie in den vergangenen drei Jahren schon spektakuläre Funde gemacht. Jetzt nehmen sie die 440 Kilometer der künftigen Nel-Trasse unter die Grabungsschaufel.

Das Bild von der Vergangenheit mussten die Archäologen bereits nach ihren Grabungen entlang der Opal-Trasse vielfach revidieren. Rund 35 000 archäologische Funde aus 10 000 Jahren Menschheitsgeschichte wurden gemacht. Bei Anklam bargen die Forscher einen Hacksilberschatz aus dem frühen 9. Jahrhundert. Bei Zarnekow (Ostvorpommern) gruben sie rund 100 Öfen zur Eisengewinnung aus - Belege, dass es in Vorpommern schon beizeiten eine regelrechte Eisenindustrie gab.

"Wir bekommen alles aus allen Zeiten vor die Schaufel", schwärmt der Projektleiter beim Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommerns, Andreas Selent. So wie auch ein Stück eines 5000 Jahre alten Steinbeils, das bei Banzkow nahe Schwerin gefunden wurde. Aus der gleichen Zeit wurden bei Dargun (Landkreis Demmin) Gräber mit Knochen gefunden; allerdings waren offenbar nur Teile der Skelette begraben worden. Selent vermutet ein besonderes Ritual.

In einer altslawischen Siedlung bei Sassen wurden mehrere rätselhafte Gebäudegrundrisse entdeckt: ein Balkenrechteck, darin noch einmal eine umlaufende Reihe Pfosten, die mit den Balken verbunden sind. "So etwas haben wir noch nicht gesehen", sagt Andreas Selent.

Von Lubmin über Güstrow, Schwerin und Boizenburg bis nach Rehden in Niedersachsen buddeln die Forscher in den nächsten Monaten das Erdreich entlang der künftigen Erdgasleitung auf 36 Meter Breite um. "Das ist eine einmalige Chance", sagt Selent. "Wann bekommt man schon die Gelegenheit, quer durch eine ganze Landschaft zu graben?" Sonst werde meist punktuell untersucht: an einem Schlachtfeld beispielsweise oder einer Siedlung.

Allein in Mecklenburg-Vorpommern misst die Nel-Baustelle 240 Kilometer. Bezahlt werden die Grabungen vom Investor der Gasleitungen, der Firma Wingas (Kassel). Mehrere Millionen Euro seien dafür einkalkuliert, sagt Wingas-Sprecher Nicholas Neu.

Erste Voruntersuchungen, bei denen auf der Breite einer Baggerschaufel 40 bis 50 Zentimeter tief geschaut wird, machen Selent Hoffnung. Neben den schon vorab rund 200 bekannten Fundstellen wurden bereits 103 neue entdeckt. So fanden die Forscher kürzlich bei Sassen (Kreis Demmin) eine hervorragend erhaltene eiserne Gewandfibel aus dem ersten Jahrhundert vor der Zeitrechnung. "Funde aus Eisen sind nach so langer Zeit meistens stark korrodiert", sagt Selent. Nicht so dieses Stück, das bei einer Feuerbestattung durch die Flammen wohl gehärtet wurde. In den Kerben der Fibel könnte einst Emaille eingelegt gewesen sein, vermutet Selent. "Das würde auf Verbindungen der Germanen in den südwestdeutschen Raum hindeuten."

Die Funde der Voruntersuchungen sollen in den nächsten Monaten eingehend erforscht werden. Doch den Archäologen sitzt die Zeit im Nacken: Schon im Frühjahr kommenden Jahres sollen die Bauarbeiten beginnen. Selent vermutet, dass noch ein ungeheurer Erkenntniszuwachs durch die Arbeit an den Trassen auf die Forscher zukommt.