Der Familientherapeut Jesper Juul fordert mehr männliche Vorbilder und weniger Süßholzraspeln in der Erziehung.

Hamburg. Kinder brauchen keine Grenzen, sie brauchen Unterstützung. Nur eine These des Familientherapeuten Jesper Juul, der im Abendblatt-Gespräch zudem erläutert, warum das Hamburger Schulmodell antiquiert ist und das Streben nach glücklichen Kindern nicht zum Projekt werden darf.

Hamburger Abendblatt:

Herr Juul, halten Sie sich für einen guten Vater?

Jesper Juul:

Ich denke, ich mache einen guten Job. Ob ich ein guter Vater war, messe ich an meinem Sohn, der mittlerweile Mann und Vater ist.

Haben Sie ihn in dem ernsten Ton erzogen, den Sie anderen Eltern empfehlen?

Juul: Eltern sprechen entweder in einem zuckersüßen oder in einem strengen Tonfall mit Kindern. Ich rate zur direkten und persönlichen Sprache, sie soll Gefühle und Körpersprache unterstützen. Sie muss authentisch sein.

Das ist der Schlüssel?

Juul: Nur so werden Botschaften gehört und ernst genommen. Authentische Sprache ist die Voraussetzung für Nähe - egal ob zwischen Eltern und Kindern oder in einer Partnerschaft.

Was ist das Problem am Süßholzraspeln?

Juul: Überfreundliche zuckersüße Ansprache gegenüber Kindern nutzen viele Eltern, um ihr Image als "gute Eltern" in der Öffentlichkeit aufzubauen. Sie dient dem Versuch, Kinder vor wahren, elterlichen Gefühlen zu schützen. Diese Sprache ist Verschleierungstaktik.

Also Klartext von Geburt an.

Juul: Nach dem ersten Lebensjahr sollten Kinder mit normaler Melodie angesprochen werden. Das hilft auch beim Erlernen passiver Sprachkompetenz.

Sie verurteilen das Streben nach "glücklichen" Kindern. Was ist daran falsch?

Juul: Ich verurteile dieses Streben nicht. Aber Kinder können nicht immer glücklich sein. Wenn sie ihr Unglücklichsein und schlechte Erfahrungen verstecken, sind einsame Kinder und unglückliche Eltern die Folge. Es ist in Ordnung, seinen Kindern alles Glück dieser Welt zu wünschen! Aber es ist falsch, daraus ein Projekt zu machen.

Ist das ein neues Phänomen?

Juul: Kinder werden heute mit mehr Respekt und Würde behandelt. Andererseits sind Eltern unsicherer. Das macht es Kindern schwer. Aber daraus ergeben sich Lernansätze für Strategien in unserem "Familienlabor".

Familienlabor?

Juul: Ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der niemand die Antwort auf die Frage hat: "Was macht eine gute Familie, eine gute Beziehung zwischen zwei Partnern aus?" Im Familienlabor können Eltern und Fachkräfte ihr Wissen und ihre Erfahrungen teilen und relevante Fragen entwickeln, anstatt Fragen hinterherzujagen, auf die keiner eine Antwort weiß.

Klingt nach Elternschulung.

Juul: Ich lehne es ab, sich in "Elternschulungen" fortbilden zu lassen oder gar einen "Kinderführerschein" zu machen. Das Lernen sollte vielmehr in Tausenden kleinen alltäglichen Interaktionen mit ihren Kindern stattfinden. Ich glaube nicht daran, dass es einen richtigen oder falschen Weg gibt. Aber man kann einen Weg finden.

Welche Rolle spielen Väter dabei?

Juul: Sie sind dabei, ihre Rolle neu zu definieren. Sie wollen sich einbringen, sind aber oft ängstlich und zu abhängig von der Zustimmung ihrer Partnerin.

Sollten Väter mehr wagen?

Juul: Wir sprechen von einem Rollenwechsel. Als Familientherapeut begrüße ich diese Dynamik, denn Frauen brauchen reife, ansprechbare und verantwortungsvolle Partner. Und Kinder brauchen dringend ihre Väter.

Warum ist das so dringend?

Juul: Erziehen ist viel zu wichtig, um es allein Frauen zu überlassen. Väter stehen vor einer riesigen Herausforderung, denn viele haben keine oder schlechte männliche Vorbilder. Meine Generation hat versucht, von Müttern zu lernen, wie man ein guter Vater ist. Das kann nicht gelingen.

Ganz grundsätzlich: Wie sollten Frauen und Männer ihre Kinder erziehen?

Juul: Die beste Antwort ist vielleicht: Seien Sie ein gutes Vorbild! Leben Sie ihre Werte, anstatt sie zu predigen! Seien Sie Teil eines wirklichen Dialogs!

Mit Lob und Bestrafung?

Juul: Das Prinzip hat langfristig nie funktioniert.

Aber Kinder brauchen doch Werte.

Juul: Kinder müssen den Unterschied zwischen wahren Werten und simpler Moral lernen. Geben Sie Kindern keine Antworten, aber bringen Sie ihnen bei, Antworten zu finden.

Sie sagen, man sollte aufhören, Kinder als Ressource zu sehen. Wie sollte man Kinder dann sehen?

Juul: Wenn diejenigen, die Kinder als Zukunft der Gesellschaft sehen, dies wirklich ernst meinen würden, würden sie Kinder besser behandeln. Die Botschaft, die sich Kinder den ganzen Tag anhören müssen, ist: "Seid so wie wir - weil wir wissen, wie es richtig geht." Wir sollten ihnen mehr Unterstützung anbieten und ihnen mehr zutrauen. Stattdessen stecken wir ihnen Grenzen.

Grenzen sind wichtig.

Juul: Was ich damit meine ist: Schaut auf die Kinder! Seid mit ihnen und lernt von ihnen, so wie sie jetzt sind! Die Zukunft beginnt mit der Geburt eines Kindes und nicht dann, wenn es 18 wird.

In Hamburg wurde der Fortbestand der vierjährigen Grundschule beschlossen: Warum meinen Sie, das sei Unsinn?

Juul: Befürworter dieses veralteten Systems schüren seit Jahren die Angst vieler Eltern, dass ihr Kind es nicht schaffen wird. Vierjährige Grundschulen sind für eine Industriegesellschaft entwickelt worden, die es so nicht mehr gibt. Und ich frage mich, ob dieses alte Konzept in Hamburg noch wirkt.

Was wäre das Problem?

Juul: Es entsteht ein enormer Druck. Und das zu einer Zeit im Leben, in der niemand wirklich Verlässliches über das Potenzial des Kindes sagen kann. So wird vielen eine Zukunft verbaut. Wer kann daran interessiert sein?

Gute Frage. Schulreformgegner führen fehlende empirische Ergebnisse an.

Juul: Das mag ja sein. Aber hängt immer alles von der Wissenschaft ab? Sollte nicht die tägliche Erfahrung genauso viel Gewicht haben? Entscheidend ist doch nicht die Länge des gemeinsamen Lernens, sondern die Art und Weise. Dieser früh anstehende Entscheidungszwang kann viel zwischen Eltern und Kindern zerstören. Etwa, wenn in der Pubertät das Gefühl, ein Versager zu sein, Wut oder Gleichgültigkeit auslöst.

Geht es nur deutschen Eltern so?

Juul: Europäische Eltern sind sich ähnlich. Alle kämpfen mit viel Hingabe. In diesem Prozess werden viele Fehler gemacht, aber die sind wertvoll und letztlich ein wichtiger Teil der Entwicklung.

Jesper Juul, 62, ist Gründer und Leiter des Kempler Institute of Scandinavia und des Elternberatungsprojekts FamilyLab. Am Sonntag referiert er zum Thema: "Pubertät ist eine Tatsache, keine Krankheit". Beginn: 19 Uhr, Hauptgebäude Universität (Edmund-Siemers-Allee 1). Karten unter Telefon 43 21 52 02) und an der Abendkasse.