Die Neutronenstrahlung lässt die Druckbehälter allmählich spröde werden.

Dresden. Was passiert, wenn europäische Kernkraftwerke über die kalkulierte Betriebszeit von 40 Jahren am Netz bleiben? Ist auch dann noch gewährleistet, dass der Reaktordruckbehälter trotz des kontinuierlichen Beschusses mit Neutronenstrahlung stabil bleibt? Diese Frage will das Projekt "Longlife" beantworten. 16 Akteure aus neun Ländern arbeiten in dem von der EU mit 2,7 Millionen Euro geförderten Projekt, das vom Forschungszentrum Dresden koordiniert wird.

Die Dresdener Sicherheitsforscher sitzen an der Quelle. Aus dem nach der Wende stillgelegten Kernkraftwerk Greifswald untersuchen sie Materialproben der verschiedenen Reaktoren. Der älteste ging 1973 in Betrieb. Er war zwar keine 20 Jahre am Netz, eignet sich aber dennoch zur materiellen Altersforschung. "Die Druckbehälter russischer Bauart sind relativ schlank", erklärt Prof. Frank-Peter Weiß, Direktor des Instituts für Sicherheitsforschung in Dresden. "Deshalb liegt der Reaktorkern dichter an den Wänden - die Wasserschicht, die einen Teil der Neutronenstrahlung abfängt und den Rest zumindest abbremst, ist hier dünner als bei den Druckbehältern der westdeutschen Reaktoren. Die relativ starke und kürzere Belastung, die die Greifswalder Reaktoren traf, ruft vergleichbare Alterungsprozesse hervor wie eine 40-jährige Betriebszeit von Behältern mit einem dicken Wasserspalt."

Ist der Reaktordruckbehälter am Ende, ist dies das Aus der Kraftwerks

Natürlich nagt auch an den Kernreaktoren der Zahn der Zeit. Um die Sicherheit der Anlage zu gewährleisten müssen vor allem zwei Komponenten intakt sein: der Kühlkreislauf und der Reaktordruckbehälter. Während alle anderen Anlagenteile ausgewechselt werden können, bedeutet ein Zweifel an der Belastbarkeit des Druckbehälters automatisch das Aus für das Kraftwerk.

Eine potenzielle Gefahr lauert in der Versprödung der Stahllegierung des Behälters. Die Neutronen schießen winzig kleine "Löcher" in die Molekülstrukturen der Behälterwand. Diese lassen das Material spröde werden. "Solange der Reaktor im Normalbetrieb läuft, ist das kein Problem", sagt Weiß. "Aber wenn im Kühlkreislauf irgendwo ein Leck auftaucht und deshalb Notkühlwasser zugeführt wird, werden die Wände stark beansprucht. Dann fließt 20 bis 30 Grad kühles Frischwasser in den Druckbehälter. Es vermischt sich nicht sofort mit dem 300 Grad heißen Kühlwasser, sondern kühlt den Wandabschnitt, an dem es einfließt, ab. Dadurch entstehen hohe thermische Spannungen."

Ein Riss würde sich in Schallgeschwindigkeit ausbreiten

Die Stahle aller Reaktordruckbehälter sind selbstverständlich so ausgelegt, dass sie diese Belastung aushalten. Aber bei sprödem Stahl könnte sich theoretisch ein Riss bilden. "Ein Riss würde in Schallgeschwindigkeit durch den Druckbehälter gehen und den Stahlzylinder, in dem 160 bar Druck herrschen, bersten lassen. Das muss auf jeden Fall ausgeschlossen sein."

Eine Laufzeit von mehr als 40 Jahren sei für die Reaktoren technisch kein Problem, so Weiß, die Beschränkung auf 32 Jahre im Rahmen des Atomausstiegs sei eine rein politische Entscheidung gewesen. Weiß: "Bei dem EU-Projekt reden wir von 60 Jahren und mehr; in den USA wird bereits über Laufzeiten von 80 Jahren gesprochen."