Experten beobachten den Trend, dass Menschen zu Medikamenten greifen, um im Arbeitsalltag bestehen zu können

Hamburg. Die Arbeitswelt mit ihren immer neuen Herausforderungen bringt so manchen Menschen an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Da liegt dann auch der Gedanke nicht fern, seinem Gehirn mit einer einfachen Pille auf die Sprünge zu helfen, um so dem anstrengenden Alltag wieder gewachsen zu sein oder im Konkurrenzkampf mit Kollegen zu bestehen. Unter dem Schlagwort "Gehirndoping für Gesunde" wurde es bekannt. Neuroenhancement nennen Experten diesen neuen Trend, mithilfe von gezielten Maßnahmen seine geistige Leistungsfähigkeit zu steigern, die Stimmung positiv zu beeinflussen, Angst und Aufgeregtheit zu reduzieren und so das psychische Befinden zu verbessern.

"In Deutschland ist dieses Phänomen noch relativ neu und unerforscht, in den USA begann es bereits vor zehn, 15 Jahren, als Gesunde das Antidepressivum Prozac einnahmen, um ihre Stimmung zu verbessern", sagt Angelika Nette, Referentin für betriebliche Suchtprävention in der Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen, die vor Kurzem eine Tagung zu diesem Thema in Hamburg organisiert hat.

Am häufigsten werden sogenannte Psychostimulanzien eingesetzt, insbesondere das Ritalin, das zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms bei Kindern verschrieben wird. Auch Medikamente, die zur Therapie der Demenz gedacht sind, und Antidepressiva, die eine antriebssteigernde und stimmungsaufhellende Wirkung haben, werden von Gesunden missbraucht, um sich fitter für den Alltag zu machen. Dabei sind diese Mittel nicht ohne Nebenwirkungen, sondern können die Arbeitssicherheit, das Wahrnehmungs- und Reaktionsvermögen beeinträchtigen. Und sie sind verschreibungspflichtig und nicht einfach in der Apotheke erhältlich. "Die meisten Menschen bekommen diese Substanzen vom Arzt verordnet, aber es gibt auch die Möglichkeit, sie sich über das Internet zu beschaffen", sagt Angelika Nette. Auf dem Schwarzmarkt in Deutschland spielten sie hingegen keine Rolle.

Wie viele Menschen diese Mittel nutzen und wer die typischen Konsumenten sind, ist noch weitgehend unklar. Aus Umfragen in den USA weiß man, dass Wissenschaftler und Studenten auf Ritalin zurückgreifen, um gezielt ihre geistige Leistungsfähigkeit zu steigern, sagt Nette. Einblicke in die Situation in Deutschland liefert eine DAK-Studie mit einer Befragung von 3000 Beschäftigten. "Davon gab ein Prozent zu, selbst zu dopen", sagt Angelika Nette. Da sich die Arbeitsbedingungen hierzulande weiter verschärfen, sei aber davon auszugehen, dass die Zahl ansteigen wird.

Auch Prof. Stefan Knecht, Chefarzt der Neurologie in der Schön-Klinik Hamburg-Eilbek, hält es für schwierig, verlässliche Daten darüber zu bekommen, in welchem Umfang diese Mittel bereits eingesetzt werden, weil diejenigen, die sie nutzten, sich scheuten, dies zuzugeben.

Neuroenhancement mit Medikamenten für Gesunde lehnt der Neurologe strikt ab, "aber es gibt einfache Tricks, mit denen man seine geistige Leistungsfähigkeit steigern kann". So ist bekannt, dass ausreichend körperliche Bewegung diesen Effekt hat, ebenso das Lernen vor dem Schlafen. "Der Schlaf wirkt als Neuroenhancer, weil er das Gelernte verfestigt." Ein geregelter Tagesablauf mit ausreichend Schlaf und körperlicher Fitness trägt ebenfalls zur Leistungsfähigkeit bei. Auch Tee und Kaffee wirken anregend und können das Konzentrationsvermögen verbessern. Aber das sei, wie bei vielen Medikamenten , auch eine Frage der Dosis: "Wenn man morgens zwei bis drei Tassen Kaffee trinkt, kann das anregend und positiv wirken. Trinkt man aber zwei bis drei Kannen, lassen Leistungsfähigkeit und Konzentrationsvermögen nach, man wird unruhig, bekommt Herzklopfen und Panikattacken."

Und es wird weiter geforscht. "Die größte kognitive Leistung erbringt ein Kind, das ausgeschlafen ist, sich ausreichend bewegt und sich für die Sache, mit der es sich gerade beschäftigt, begeistert. Diese Mechanismen wollen wir begreifen, um sie für Kranke zu nutzen", sagt Knecht.

Denn für Menschen, die durch eine Erkrankung einen Teil ihrer geistigen Leistungsfähigkeit verloren haben, kann Neuroenhancement mit Medikamenten sehr hilfreich sein. "Bei Patienten mit Demenz, Schlaganfällen, Kopf- und Gehirnverletzungen oder bei Menschen, die nach einem Herzinfarkt einen Sauerstoffmangel im Gehirn erlitten haben, setzen wir solche Medikamente ein. In diesen Fällen rechtfertigt der Nutzen das Risiko", sagt Knecht. Bei den Mitteln, die für diese Form des Neuroenhancements verwendet werden, handelt es sich in der Regel um Vorläufer des Nervenbotenstoffs Dopamin. "Sie wirken lernverstärkend und können helfen, verloren gegangene Gehirnfunktionen wieder zu erlernen", sagt Knecht.

Die segensreiche Wirkung bei Kranken ist sicher unumstritten. Aber das "Gehirndoping für Gesunde" werfe nicht nur medizinische, sondern auch gesellschaftliche Fragen auf, meint der Neurologe Knecht: "In unserer Wissens- und Leistungsgesellschaft, in der ein hoher Konkurrenzdruck herrscht, stellt sich auch die Frage, ob es legitim ist, seine geistige Leistungsfähigkeit künstlich zu steigern und sich damit gegenüber anderen Menschen Vorteile zu verschaffen. Ist es ein verwerfliches Schummeln oder technisch versiertes Verhalten?"