Rein rechnerisch ging in Hamburg fast jeder Zweite der bis 15-Jährigen im vergangenen Jahr zum Ergo-, Sprach- oder Physiotherapeuten.

Hamburg. Ob Sprachtherapie, weil das Mädchen die Buchstaben beim Sprechen verdreht, oder Ergotherapie, weil der Junge den Stift nicht richtig hält: Nicht selten bekommen Kinder schon vor der Grundschule eine Therapie verordnet. Im Ländervergleich ist die Hansestadt Spitzenreiter, was die Verordnung von funktionellen Therapien für Kinder und Jugendliche bis 15 Jahre angeht: Mehr als 73 000 Rezepte stellten die niedergelassenen Ärzte in Hamburg im vergangenen Jahr für Ergo-, Physio- und Sprachtherapien aus. Statistisch haben damit 40 Prozent aller Hamburger Kinder und Jugendlichen dieser Altersgruppe eine Therapie erhalten, teilte die Techniker Krankenkasse (TK) gestern mit.

Die Daten stammen aus der Heilmittelstatistik des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung. Rechnerisch hat jedes gesetzlich versicherte Kind 2011 Therapien für knapp 109 Euro verschrieben bekommen. Damit liegt Hamburg um 43 Prozent über dem Bundesdurchschnitt von 76,50 Euro. Gefolgt wird die Hansestadt von Schleswig-Holstein mit rund 95 Euro. Am Ende der Liste liegen Brandenburg mit 66,50 Euro und Bayern mit 60 Euro.

Zu den Ausgaben der privaten Kassen lagen keine Daten vor. "Wir erfassen die Leistungsausgaben gegliedert nach einzelnen Bereichen, zum Beispiel auch für Heilmittel, allerdings nicht aufgesplittet nach Bundesländern oder Altersgruppen", sagte ein Pressereferent des Verbandes der privaten Krankenversicherung in Berlin.

+++ Hamburger Kinder erhalten die meisten Therapien +++

Woran liegt die Spitzenreiterrolle? Haben Hamburger Kinder besonders viel Förderbedarf? Ist die Hansestadt besser versorgt mit Therapeuten? Oder sind Eltern, Schulen und Kinderärzte besonders aufmerksam? Die Experten können keine eindeutige Antwort geben. "Es ist wohl eine Mischung", sagt Martin Dirksen-Fischer, Leiter des Fachamtes Gesundheit im Bezirk Eimsbüttel. "Die Hamburger Kinder sind nicht kränker oder förderbedürftiger als in anderen Bundesländern, aber die Angebote bei uns sind in der Regel leichter erreichbar." Ein Phänomen des Stadtstaates im Vergleich zu ländlichen Gebieten.

Die TK verweist jedoch auch auf gesellschaftliche Herausforderungen. "Die Kinder wachsen heute - besonders in Großstädten - oft unter ganz anderen Bedingungen auf als früher: Playstation statt Spielplatz, Computer statt Fußball und Fernsehen statt Vorlesen. Das wirkt sich natürlich auch auf die altersgerechte Entwicklung der Kinder aus", sagt Maren Puttfarcken, Leiterin der TK-Landesvertretung Hamburg.

Und auch der Anspruch an die Kinder wachse stetig - was der Landesverbandsvorsitzende der Kinder und Jugendärzte, Stefan Renz, bestätigt. Die funktionellen Therapien seien im Ursprung sinnvoll, betont er. Die Zahlen spiegelten jedoch die große Verunsicherung von Eltern und Erziehern wider. "Nicht zuletzt nach dem PISA-Schock haben viele die Befürchtung, etwas zu verpassen und suchen akribisch nach Defiziten, die dann durch eine Therapie behoben werden sollen." Er habe schon "heulende Eltern mit quietschgesunden Kindern" in der Praxis gehabt, denen von Erziehern vorausgesagt wurde, ohne Ergotherapie würde das Kind in der dritten Klasse versagen. "Schon in Krabbelgruppen wird verglichen, welches Kind besser die Füße in den Mund stecken kann und nach Therapien gefragt, weil das Nachbarkind das besser kann."

Therapien für behinderte oder extrem auffällige Kinder stehen hier laut Renz nicht zu Diskussion. Ihm geht es darum, genauer hinzuschauen, ob eigentlich gesunde Kinder einfach nur zu viel rumsitzen und sich zu wenig bewegen. Man müsse sich klarmachen: "45 Minuten Therapie in der Woche können nicht reparieren, was im Alltag teils versäumt wird, weil die Kinder zu viel vor dem Fernseher sitzen. Ein Kind sollte erst einmal in den Sportverein und unter Kinder, bevor es eine Therapie bekommt." Außerdem mahnt er: "Werden die Kinder nicht stigmatisiert, indem man ihnen vermittelt, sie bräuchten eine Behandlung, weil sie 'nicht in Ordnung' seien?"

Die Gesamtausgaben für die genannten Therapien lagen 2011 bei 19,8 Millionen Euro. Davon entfielen laut einem TK-Sprecher 26 Prozent auf die Altersgruppe null bis vier Jahre, 54,5 Prozent auf die Fünf- bis Neunjährigen und 19,5 Prozent auf Kinder zwischen zehn und 15 Jahren. Auf jedes behandelte Kind entfielen 272,50 Euro, eine Behandlungseinheit koste zwischen vier und 65 Euro - je nach Art der Therapie und Gruppengröße. Die meisten Behandlungen liegen bei 25 bis 35 Euro pro Einheit.

Die TK empfiehlt, auf viel Bewegung und gemeinsame Mahlzeiten zu achten. Kinder sollten ihrer Fantasie beim Spielen, Basteln, Singen, Vorlesen oder Toben auf dem Spielplatz freien Lauf lassen können. "Solche Aktivitäten fördern das Sozialverhalten, die Kreativität und die koordinativen Fähigkeiten, womit das Risiko von Entwicklungsrückständen gemindert werden kann", sagt Puttfarcken.

Um Entwicklungsverzögerungen auf die Spur zu kommen, können Eltern zusätzliche Vorsorge-Untersuchungen beim Kinderarzt wahrnehmen, die über den gesetzlich vorgeschriebenen Rahmen hinausgehen. Einige Kassen übernehmen diese Leistungen, die U10, U11 sowie die J2 genannt werden (Liste unter www.kinderaerzte-im-netz.de ). Neben einer körperlichen Untersuchung steht die emotionale, soziale und schulische Entwicklung im Vordergrund.

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