Im Herbst soll am UKE ein neuer Modellstudiengang beginnen, in dem die Studenten von Beginn an näher am Patienten ausgebildet werden

Hamburg. Biologie, Physik, Chemie, Anatomie, Biochemie, Physiologie: Wer heute Medizin studiert, muss sich in den ersten zwei Jahren durch einen Berg von naturwissenschaftlichen Fächern arbeiten. Erst wenn er das erfolgreich - in Form einer Zwischenprüfung, des Physikums, bewältigt hat, folgt der klinische Teil, in dem Untersuchungen von Patienten und ihre Krankheiten in den Mittelpunkt rücken. Das soll jetzt in Hamburg anders werden. Das Universitätsklinikum Eppendorf will zum kommenden Wintersemester einen neuen Modellstudiengang starten, in dem Theorie und Praxis in der Medizinerausbildung vom ersten Semester an eng miteinander verzahnt sind.

"Dieser integrative Ansatz ist die größte Veränderung des neuen Studiengangs", sagt Andreas Guse, Professor für Biochemie und Prodekan für Lehre am UKE. Die Erfahrung habe gezeigt, dass bei den Studierenden der theoretische Stoff nach dem Physikum gedanklich oft abgehakt sei. "Doch dieses Wissen ist als Grundlage für das weitere Studium notwendig", sagt Guse. Als Beispiel nennt Prof. Uwe Koch-Gromus, Dekan am UKE, die anatomische Ausbildung: "Unsere Studierenden werden zu Beginn des Studiums einer sehr guten, kompakten anatomischen Ausbildung unterzogen. Und zwei Jahre nach dem Physikum klagen die Chirurgen darüber, dass den Studierenden das anatomische Wissen fehlt."

Um dem entgegenzuwirken, werden jetzt schon ab dem ersten Semester alle theoretischen Inhalte anhand von häufigen Beispielerkrankungen und realen Krankheitsgeschichten erklärt. Die Studenten lernen die Theorie nicht in der Systematik der einzelnen Fächer, sondern übergreifend auf die Krankheit bezogen. "Mit diesem Modell können wir den Studenten wesentlich besser klar machen, warum so viel Theorie erforderlich ist", sagt Guse und nennt als Beispiel eine Krebserkrankung: "Auf die Biochemie übertragen bedeutet das, sich damit zu beschäftigen, was bei der Teilung von Zellen biochemisch passiert und dass durch die Entgleisung der Regulation dieser Zellteilung ein Tumor entsteht." Nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch psychosoziale Aspekte spielten bei den einzelnen Krankheitsbildern eine Rolle, zum Beispiel, ob ein Diabetiker sich an die Verordnungen des Arztes halte, ergänzt Koch-Gromus. Insgesamt wird der zu Beginn des Studiums noch große Theorieteil bis zum zehnten Semester immer kleiner, der praktische Anteil nimmt im Gegenzug immer mehr Raum ein.

Unterstützt wird diese neue Herangehensweise durch die Einführung einer elektronischen Lernplattform, die bis zu einem gewissen Maß die herkömmlichen Lehrbücher ersetzen soll. "Zu den Erkrankungen kann der Studierende verschiedene Aspekte der Wochenthemen auf dem Rechner sehen. Es erscheinen zusammenfassende Einheiten, von denen aus auf untere Ebenen verwiesen wird, in denen die Lehrbuchinhalte zu finden sind", erklärt Guse.

Die Verbindung der Lehre zur Forschung wird durch einen dritten Bereich sichergestellt: "Die Studierenden können aus 14 wissenschaftlichen Wahlpflichtbereichen einen aussuchen, in dem sie sich ein besonderes Profil erarbeiten wollen. Diese Säule, die sich über zehn Semester hinzieht, beginnt mit dem Erlernen von wissenschaftlichem Arbeiten. Danach schauen sich die Studierenden drei Bereiche an und legen sich schließlich auf einen fest, in dem sie dann nach dem zehnten Semester eine 20-seitige Studienarbeit verfassen müssen und in dem sie auch schon während des Studiums mit der Promotion beginnen können", sagt Guse. Die Wahlpflichtbereiche orientieren sich an den Forschungsschwerpunkten des UKE. Beispiele sind die Neurowissenschaften, Herz-Kreislauf-Forschung und die Versorgungsforschung.

Auch die Kommunikation zwischen dem Arzt und seinen Patienten wird wesentlich mehr berücksichtigt als bisher. "Die Vermittlung psychosozialer Kompetenzen liegt uns sehr am Herzen. Dafür gibt es den Strang klinische Untersuchungsmethoden plus Kommunikation, der sich durch die ganzen fünf Jahre bis zum Praktischen Jahr zieht. Dabei trainieren die Studierenden diese Fähigkeiten zuerst untereinander, dann an Simulationspatienten und dann zunehmend auch am Patienten selbst", sagt Guse.

Die Prüfungen werden an die neuen Lernmethoden angepasst. "Es wird in Hamburg kein Physikum mehr geben, sondern eine eigene vergleichbare Prüfung", sagt Koch-Gromus. Das gilt auch für den zweiten Abschnitt der ärztlichen Prüfung nach dem Praktischen Jahr. Sichergestellt ist laut Koch-Gromus, dass der Hamburger Studienabschluss anderen in Deutschland gleichgestellt ist. "Wir haben dreieinhalb Jahre an dem Konzept gearbeitet. Das Landesprüfungsamt hat sehr gründlich geprüft, ob wir uns an den europäischen Normen orientieren und die gesetzlichen Vorgaben der ärztlichen Approbationsordnung einhalten."

Guse hält es für unumgänglich, dass das Medizinstudium alle zehn Jahre durch Reformen an aktuelle gesellschaftliche Veränderungen angepasst wird: "Die jungen Leute, die jetzt zu uns kommen, sind sehr computeraffin, nutzen aber wenig Bücher. Die Lernplattform trägt dem damit Rechnung, dass die Lerninhalte auf die iPads und die iPhones kommen."

Ein Blick zurück in die 70er-Jahre zeigt den enormen Wandel, der sich im Studium vollzogen hat. Koch-Gromus, der nach seinem Psychologiestudium von 1971 bis 1977 in Hamburg Medizin studierte, erinnert sich noch genau: "Es gab eine sehr starke Betonung der Naturwissenschaften. Man musste zunächst das Vorphysikum in Physik, Biologie und Chemie bestehen. Dann folgte eine sehr angstbesetzte Zeit bis zum Physikum, weil das Durchfallen in Physiologie oder Biochemie das Ende der Karriere bedeuten konnte. Die psychosozialen Fächer wie medizinische Psychologie, medizinische Soziologie und später die Psychosomatik waren mit der neuen Approbationsordnung 1970 gerade frisch eingeführt und galten noch als unbedeutend. Die einzelnen Fächer waren noch untereinander strikt getrennt und alle waren auch fest davon überzeugt, dass das so sein muss. Heute hingegen steht das problemorientierte und fachübergreifende Lernen im Vordergrund - eine ganz andere Ausrichtung als früher."

Aber es gab auch Dinge, die damals besser waren, sagt er: "Früher hat es noch mehr Freiheiten gegeben. Wer es sich leisten konnte, hat ein bisschen länger studiert. Heute hat der Druck, in zwölf Semestern fertig zu werden, deutlich zugenommen. Damals ist es schon ein sehr striktes Studium gewesen, das sehr viel Präsenz erfordert hat, aber doch nicht so durchstrukturiert wie heute. Wir versuchen jetzt, mit den Wahlmöglichkeiten dieser starken Normierung etwas entgegenzusteuern und hätten auch gern noch den Raum für selbst definierte Tätigkeiten erhöht."

Die starke "Verschulung" des heutigen Medizinstudiums werde von Studierenden allerdings unterschiedlich empfunden: "Für die einen bedeutet sie eine Einschränkung der Freiheiten, anderen hilft sie, sich im Studium zurechtzufinden", sagt Koch-Gromus.