Neues Projekt in der Hansestadt: Der Einsatz von selbst Betroffenen schafft Unterstützung auf Augenhöhe. Das Projekt ist weltweit einzigartig.

Hamburg. In der Betreuung von psychisch kranken Menschen geht Hamburg jetzt völlig neue Wege: In einem weltweit einzigartigen Projekt können Betroffene und ihre Angehörigen sich künftig Unterstützung bei einer Peer-Beratung holen. Peer steht dabei für Peergroup, einen Begriff aus dem englischsprachigen Raum, der eine Gruppe von Gleichgestellten umschreibt. Denn es handelt sich um ein Netzwerk, in dem sich Menschen, die selbst Erfahrungen mit psychischen Krankheiten oder existenziellen Krisen haben oder aber einen Angehörigen haben, der davon betroffen ist, Menschen mit ähnlichen Problemen als Genesungsbegleiter und Gesundheitslotsen zur Verfügung stellen.

Und der Versorgungsbedarf ist groß: Hamburg ist in Deutschland neben Berlin die Stadt mit den meisten Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen. Laut dem DAK-Gesundheitsreport kamen 2009 in den beiden Städten auf 100 Versicherte 179 Fehltage. Der Bundesdurchschnitt lag bei 134 Fehltagen. "2011 hatten wir 23 000 stationäre Behandlungsfälle wegen psychischer Erkrankungen, 1600 mehr als im Vorjahr. Wir liegen bundesweit an der Spitze, obwohl wir ein gutes Versorgungssystem haben. Auf 1800 Einwohner kommt ein niedergelassener Psychotherapeut", sagte Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks gestern bei der Vorstellung des Projekts.

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Es zeige sich aber auch, dass viel nicht immer viel helfe, sondern dass es sehr stark auf das Wie ankomme, besonders angesichts langer Wartezeiten auf Therapieplätze und mangelnder Abstimmung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung, sagte Prüfer-Storcks. "Die Peer-Berater können dazu einen guten Beitrag leisten", so die Senatorin.

Wie das konkret aussehen kann, erzählte Gwen Schulz, selbst seit Sommer des vergangenen Jahres Genesungsbegleiterin im Universitätsklinikum Eppendorf: "Die Anliegen, mit denen die Menschen zu uns kommen, sind sehr unterschiedlich. Das kann zum Beispiel die Vorbereitung auf ein Gespräch sein, vor dem sie sich fürchten, der Aufbau einer geregelten Tagesstruktur nach einem Klinikaufenthalt oder Informationen über Selbsthilfegruppen."

Über gute Erfahrungen mit ihrer Peer-Beraterin Margrit Grotelüschen berichtete Amelie Löffler: "Wichtig ist mir, mich auf Augenhöhe beraten zulassen. Da steht einem jemand zur Seite und es gibt kein Beziehungsgefälle." Wichtig ist ihr auch, ihre Gedanken, die sie in manischen und depressiven Episoden hat, jemandem mitteilen und darauf vertrauen zu können, dass er sie versteht.

In der Angehörigen-Peer-Beratung geht es unter anderem darum, die Angehörigen durch Aussprache in Krisensituationen und Erfahrungsaustausch zu entlasten, das Wahrnehmen von Grenzen zu fördern und geeignete Kontaktstellen zu vermitteln.

"Zurzeit sind in Hamburg etwa 16 Angehörigen-Peer-Berater tätig und 25 Berater für Betroffene", sagte Projektleiter Prof. Thomas Bock vom Universitätsklinikum Eppendorf. In Anspruch nehmen können die Beratung alle Menschen, die existenzielle Krisen oder psychische Erkrankungen durchmachen. Dabei spielt es keine Rolle, wie schwer die Erkrankung ist oder ob die Patienten vorher in ambulanter oder stationärer Behandlung waren. Die Beratung ist kostenlos und auf ein halbes Jahr begrenzt.

Beteiligt sind alle Hamburger Klinikträger und fast alle psychiatrischen Kliniken der Stadt. Die Angehörigen-Beratung wird an sechs großen Hamburger Kliniken angeboten, die Betroffenen-Beratung in acht Krankenhäusern. Nähere Informationen über Standorte und Sprechzeiten sind nachzulesen auf der Internetseite des Hamburger Projekts "psychenet" unter www.psychenet.de .

Die Peer-Beratung ist eines von elf Teilprojekten des Netzwerks "psychenet", das sich zum Ziel gesetzt hat, die Bevölkerung über psychische Erkrankungen aufzuklären und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Erkrankungen jeden treffen können.

Fünf Projekte beziehen sich auf die Gesundheitsförderung allgemein, zum Beispiel die Aufklärung über psychische Erkrankungen, den Aufbau eines neuen Internetportals zu diesem Themenfeld oder die Förderung der betrieblichen Gesundheit. In weiteren fünf Projekten sollen krankheitsspezifische Gesundheitsnetze eingerichtet werden, zum Beispiel für Depression oder Psychose. Ein Projekt befasst sich mit der begleitenden Forschung und gesundheitsökonomischen Aspekten.

Wer Peer-Berater werden möchte, muss selbst Erfahrungen mit existenziellen Krisen haben und an einer einjährigen Fortbildung im Projekt Ex-in (Experienced Involvement) teilnehmen. Anschließend kann er sich als Peer-Berater bewerben. Die Arbeit der Berater, die auf 400-Euro-Basis tätig sind, wird von dem Hamburger Projekt "psychenet" finanziert.

Weitere Informationen zur Ausbildung als Peer-Berater gibt es im Internet: www.ex-in-hamburg.de , info@ex-in-hamburg.de