Exzellenzserie - Teil 13: Politikwissenschaftlerin Christina Stolte erforscht den Aufstieg Brasiliens - und den Einfluss des Landes in Afrika.

Hamburg. Nicht einmal die weltweite Finanzkrise konnte dem Aufschwung etwas anhaben, er hält schon fast sieben Jahre an - in Brasilien. Das größte Land Südamerikas, einst hoch verschuldet, hat sich während der zwei Amtszeiten seines scheidenden Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, genannt "Lula", in eine boomende Wirtschaftsnation verwandelt. Und wenn die etwa 130 Millionen Wahlberechtigten am 31. Oktober per Stichwahl über ihr neues Staatsoberhaupt entscheiden, werden auch die Europäer aufmerksam zusehen, denn Brasilien ist für sie längst mehr als Samba und Copacabana: In Brasiliens Handelsbeziehungen nimmt die EU mit einem Anteil von rund 21 Prozent den zweiten Platz ein - und zugleich ist sie der größte Auslandsinvestor in Brasilien.

Auch Brasilien investiert kräftig, allerdings weniger in Europa oder Nordamerika, sondern vor allem in Afrika. Welche Strategie dahinter steckt, untersucht die Hamburger Politikwissenschaftlerin Christina Stolte. Noch stehe sie zwar erst am Anfang ihrer Forschungen, sagt die 26-Jährige, aber: "Es deutet einiges darauf hin, dass Brasilien sich nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen in Afrika engagiert, sondern weil es auf diesem Weg auch mehr Einfluss in der Weltpolitik gewinnen will. Mit dieser Entwicklung beschäftigen sich die Europäer noch zu wenig."

Christina Stolte arbeitet als Doktorandin an der Hamburg International Graduate School for the Study of Regional Powers der Landesexzellenzinitiative. Das Programm wird von der Universität Hamburg und vom German Institut of Global and Area Studies (GIGA) getragen. "Unsere Wissenschaftler erforschen, wie sich die Kräfteverhältnisse zwischen verschiedenen Regionen der Welt verschieben und welche Folgen damit verbunden sind", sagt der Kosprecher der Graduiertenschule, Professor Detlef Nolte.

Die etablierten Großmächte müssen Brasilien, China und Indien einbinden

"Vor allem China, Indien und Brasilien gewinnen gegenüber den etablierten Großmächten immer mehr Einfluss - wirtschaftlich und politisch. Eine globale Klimapolitik beispielsweise ist nicht mehr möglich, ohne diese aufstrebenden Staaten mit einzubinden." Welche Ziele die neuen Global Player verfolgten und wie sie dabei untereinander zusammenarbeiteten, sei jedoch noch unklar. "Es gibt einen zunehmenden Bedarf an Fachkräften, die solche Fragen beantworten können. Dafür bilden wir unsere Doktoranden aus", sagt Detlef Nolte.

In einer neuen Weltordnung kommt Afrika womöglich eine Schlüsselrolle zu, zumindest sehe Brasilien das so, sagt Christina Stolte: "Die Beziehungen werden kontinuierlich ausgebaut." Seit 2003 hat Präsident Lula auf zehn Reisen 21 verschiedene afrikanische Länder besucht, von Algerien bis Südafrika. Zum Vergleich: Ex-Bundeskanzler Schröder und Bundeskanzlerin Merkel haben Afrika im gleichen Zeitraum sieben Besuche abgestattet und dabei sieben verschiedene Länder besucht, einige davon mehrfach. Fast alle Besuche Lulas dienten dazu, Wirtschafts- und Kooperationsabkommen zu unterzeichnen", sagt Stolte. Dazu passt, dass sich die Zahl der brasilianischen Botschaften in Afrika seit 2003 von 18 auf 34 erhöht hat. Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der afrikanischen Botschafter in Brasilien von 16 auf 25 zu; afrikanische Staatschefs reisten immer häufiger nach Brasilien. Seither hat sich der brasilianische Außenhandel mit Afrika verfünffacht.

Doch es bleibt nicht bei Handelsbeziehungen. Brasilien gibt in Afrika auch Entwicklungshilfe, engagiert sich etwa in der Landwirtschaft und im Gesundheitswesen. Und es schließt Bildungsabkommen mit afrikanischen Ländern. Dadurch hat sich seit 2003 die Zahl afrikanischer Studenten an brasilianischen Hochschulen stark erhöht. Im brasilianischen Bundesstaat Ceará wird 2011 sogar eine Afrika-Universität eröffnet, die gezielt afrikanische Fachkräfte ausbilden soll.

Das umfassende Engagement ist wohl auch Folge einer tiefen kulturellen Verbundenheit, die ihre Wurzeln in der portugiesischen Kolonialzeit hat: Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Hunderttausende afrikanische Sklaven nach Brasilien gebracht. Heute beheimatet das Land 76 Millionen Einwohner afrikanischer Herkunft; es ist die größte afrikanisch-stämmige Bevölkerung außerhalb Afrikas.

Die so gewachsene Solidarität mit Afrika habe sie erlebt, als sie von Februar bis April erstmals in Brasilien zu Gast gewesen sei, erzählt Christina Stolte. In der Hauptstadt Brasília und in Rio de Janeiro führte sie Interviews mit Experten von Forschungsinstituten, Universitäten und Ministerien. Voller Stolz habe ihr etwa ein Abteilungsleiter im Außenministerium ein Video mit Stammestänzen aus Afrika gezeigt, die auch in Brasilien aufgeführt würden. Ihr Eindruck: "Das Engagement in Afrika ist mit Emotionen verbunden; Brasilien interessiert sich für Afrika als Ganzes. Trotzdem", sagt Stolte, "sollte man sich nicht darüber täuschen, dass Afrika in erster Linie ein Markt für Brasilien ist. Das haben meine Interviewpartner auch unumwunden zugegeben."

Im Unterschied zu China, das ebenso an den gewaltigen Rohstoffen des Kontinents interessiert sei, zu diesem Zweck in Afrika aber hauptsächlich in die Infrastruktur investiere, gehe Brasilien vielseitiger und geschickter vor, sagt Stolte: "Das Land präsentiert sich als Stimme des Südens, als Kämpfer im Einsatz für ärmere Länder." Das Ziel: Mit der Unterstützung afrikanischer Länder, die zusammen immerhin ein Drittel aller Mitglieder der Vereinten Nationen (Uno) stellen, wolle Brasilien endlich in den Uno-Sicherheitsrat einziehen. Stolte: "Brasilien verfolgt hier eine Interessenpolitik, die aber immerhin einen positiven Nebeneffekt für Afrika hat, weil sie die Länder des Kontinents ernst nimmt und dadurch stärker in den Fokus der Weltgemeinschaft rückt."

Deutschland könnte in Afrika mit Brasilien zusammenarbeiten

Seit ihrer ersten Brasilien-Reise steht für Christina Stolte erst einmal schnöde Büroarbeit an: Täglich analysiert sie im Internet die Afrika-Berichte brasilianischer Zeitungen. Dabei motiviere sie immerhin die Aussicht, Anfang 2011 erneut nach Brasilien zu fliegen - und Ende 2011 für weitere Experten-Interviews nach Afrika.

Welchen Nutzen ihre Erkenntnisse haben könnten? "Es gibt sicher Potenzial für Deutschland, mit Brasilien in Afrika zusammenzuarbeiten. Manches, was Brasilien tut, läuft vielleicht unseren Interessen, unserer Position in Afrika und in der Welt, zuwider. Meine Analyse könnte hier Orientierung bieten."