Forscher rekonstruieren die Erwärmung des Golfstroms und machen Vorhersagen für einige Jahre. Doch viele Meeresdaten fehlen noch

Kiel/Hamburg. Der Golfstrom, Europas Warmwasserheizung, erwärmte sich in den zurückliegenden 100 Jahren stärker als der umgebende Atlantik. Aber er bleibt zumindest in den nächsten Jahren stabil. Diese beiden Forschungsergebnisse präsentierten gerade Wissenschaftler aus Kiel und Hamburg. Die Erkenntnisse sind weitere Teile im großen Golfstrompuzzle, dessen Bild bislang noch lückenhaft ist.

Die Meeresströmung, die jede Sekunde rund 100 Millionen Kubikmeter tropisches Wasser aus dem Golf von Mexiko nach Nordwesten transportiert, ist Teil der Atlantischen Meridionalen Umwälzbewegung, kurz AMOC. Sie rührt den gesamten Nordatlantik quasi um, reduziert dadurch das Temperaturgefälle zwischen dem warmen Tropenwasser und der eiskalten Polarregion. Der Golfstrom transportiert salzreiches, warmes Oberflächenwasser nach Norden. Es kühlt sich dabei ab, gefriert durch seinen höheren Salzgehalt jedoch schwerer und sinkt vor Grönland in die Tiefe. Von dort strömt es als kaltes Tiefenwasser wieder nach Süden und macht den Kreislauf perfekt. Schwankungen der AMOC beeinflussen wesentlich die Wärmezufuhr in den Nordostatlantik und damit das Klima in Europa und in Nordafrika. Die Temperaturen der Wasseroberfläche bestimmen zum Beispiel Phänomene wie Dürren im Sahel oder die Häufigkeit von Hurrikanen über dem Atlantik.

Nun hat ein internationales Forscherteam unter Beteiligung des Kieler Helmholtz-Zentrums Geomar Meeresdaten ausgewertet, die zeigen, dass sich der Golfstrom an der Oberfläche in den vergangenen 100 Jahren um 1,8 Grad erwärmt hat - stärker als der Rest des Atlantiks. "Wir haben historische Daten von Handels-, Segel- und Forschungsschiffen ausgewertet. Dort, wo Messungen fehlten, haben wir die Temperaturen mithilfe eines hochauflösenden Ozeanmodells errechnet. Dabei zeigte sich, dass der gesamte Atlantik nur um 0,8 Grad wärmer wurde. Das ist immer noch mehr als das globale Mittel aller Weltmeere von plus 0,62 Grad", sagt Prof. Martin Visbeck, Co-Autor der Studie und Leiter der Physikalischen Ozeanchemie des Geomar-Instituts.

Die globale Meereserwärmung sei längst bekannt, "uns interessierten mögliche regionale Unterschiede", so Visbeck. Das Team aus China, Australien, den USA, Japan und Deutschland wurde fündig: Alle großen westlichen Strömungen, also auch die Entsprechungen des Golfstroms vor Japan, Australien, Argentinien und Südafrika, erwärmten sich überproportional stark. Warum dies so ist, muss weiter erforscht werden. Visbeck: "Die Veröffentlichung wird eine Reihe von Erklärungsversuchen auslösen. Unser Vorschlag lautet: Die Veränderungen deuten auf den Klimawandel hin."

Allerdings schränkt der Kieler ein: "Es ist sehr schwer, den langfristigen Klimatrend regional zu erkennen. Denn er wird überlagert von natürlichen Schwankungen, von Zyklen, die zehn oder auch mal 50 Jahre umfassen." Dies betont auch Prof. Jochem Marotzke, Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für Meteorologie in Hamburg. "Man sieht hier ein interessantes Phänomen, kennt aber dessen Ursache noch nicht. Deshalb ist es schwer, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen."

Aus den Messungen der Vergangenheit lasse sich wenig Konkretes zur Zukunft ableiten, betonen beide Forscher. Am ehesten ließe sich sagen, dass sich die Strömung, ebenso wie die Windsysteme, die sie größtenteils antreiben, etwas nordwärts verschoben haben, so Visbeck: "Die transportierte Wassermenge ist eher gleich geblieben."

Aktuelle Schwankungen der Atlantikzirkulation ergründen britische Forscher des National Ozeanografie-Zentrums in Southampton. Sie messen die Strömung auf der Breite 26,5 Grad Nord (etwa 200 Kilometer südlicher als die Kanaren). Es ist weltweit die einzige kontinuierliche Messung einer Ozeanzirkulation. Die Idee hatte Jochem Marotzke vorangetrieben, als er selbst im britischen Institut arbeitete.

Mithilfe der Meeresdaten gelang es den Wissenschaftlern des MPI, per Computermodell eine erste Vorhersage der künftigen Entwicklung des Golfstroms zu machen. Nach der Anfang Januar präsentierten Studie wird sich der Golfstrom in den kommenden vier Jahren nicht verändern, abgesehen von dem üblichen Auf und Ab im Laufe der Jahreszeiten. Ein Abgleich zwischen berechneten Daten der Vergangenheit und tatsächlichen Messungen zeigte aber auch, dass der Vorhersagezeitraum auf vier Jahre begrenzt ist - werden die Zeiträume länger, sinkt die Zuverlässigkeit der Vorhersage. Marotzke ist aber optimistisch, bald weiter in die Zukunft rechnen zu können.

Der Zustand der Wärmepumpe bestimmt neben dem europäischen Klima auch das Schicksal des arktischen Eises. Zwar schmilzt es derzeit vor allem aufgrund des Treibhauseffekts, aber eine nördliche Verlagerung des Golfstroms oder ein größerer Wärmetransport würden zusätzlich am Eis nagen.

Studien aus dem Jahr 2008 lieferten erste Belege für die These, dass Wärme aus dem Ozean den Gletscherschwund in Grönland beschleunigt. Die italienische Meeresforscherin Fiammetta Straneo vom Ozeanografischen Institut in Woods Hole (USA) wies nach, dass warmes Atlantikwasser den arktischen Kaltwasserstrom, der Grönland umgibt, durchbricht - sie fand warmes Wasser in grönländischen Fjorden. Es taut die Eisschelfe, die ins Meer verlängerten Gletscher, von unten an. Die Arbeitsgruppe des französischen Klimaforschers Eric Rignot, Professor für Erdsystemwissenschaft an der Universität von Kalifornien in Irvine (USA), suchte im selben Jahr nach Schmelzwasser-Flüssen in den Tiefen der Fjorde als Beleg für die Tauprozesse. Auch sie wurde fündig.

Vermehrtes Tauwasser in nördlichen Breiten könnte seinerseits den Golfstrom schwächen, denn es verdünnt das salzhaltige Wasser und bremst dadurch den Absinkprozess - Klimasimulationen deuten darauf hin, dass sich der Wärmetransport bis zum Ende dieses Jahrhunderts um 20 bis 30 Prozent reduzieren und damit der Erwärmung entgegenwirken könnte.

Um Klimatrends besser abschätzen zu können, werden dringend weitere Teile im Golfstrompuzzle benötigt, betonen Jochem Marotzke und Martin Visbeck. Sie fordern ein umfassendes Messprogramm. Visbeck: "Der Patient Ozean braucht eine Art Langzeit-EKG, denn mit sporadischen Messungen werden wir die Ursache der Veränderungen nur sehr schwer finden."