Die Astronomen nennen es "erstes Licht", wenn sie mit einem neuen Teleskop zum ersten Mal auf bisher unsichtbare ferne Galaxien blicken können. Am 30. März feierten die Teilchenphysiker aus aller Welt ihr "erstes Licht" am Large Hadron Collider LHC in Genf, nämlich die ersten Kollisionen von Teilchen bei einer Energie, die den Vorstoß in bisher unerforschtes Neuland ermöglicht.

In den letzen 50 Jahren ist es den Teilchenphysikern gelungen, eine Theorie des inneren Aufbaus der Materie und der im Universum herrschenden Kräfte zu entwickeln und in vielen Experimenten zu beweisen. Diese beschreibt gleichzeitig die Entwicklung des frühen Universums. Aber einige Schlüsselfragen sind noch offen geblieben, wie die Entdeckung des Higgs-Teilchens, das der Schlüssel zum Verständnis des Ursprungs der Masse ist. Die Antworten auf diese Fragen erfordern höhere Energien, als sie bis heute im Labor erzeugt werden konnten. Mit dem LHC können wir diese Energien endlich erreichen, und seine Experimente sind maßgeschneidert, alles, was bei den Kollisionen passiert, mit höchster Akribie aufzuzeichnen.

Große Projekte werfen aber auch immer wieder Fragen auf: Lohnt sich der Aufwand (der LHC kostet 4,5 Mrd. Euro, die Red.)? Wieso kann man heute etwas über den Urknall lernen? Sind die Ergebnisse für uns von direktem Nutzen? Kann etwas passieren? Was macht man, wenn die Natur bei noch genauerem Hinsehen anders aussieht, als was wir heute sehen?

Der Vorstoß in Neuland ist nie kostenlos. Der LHC ist eine Anlage, die von 10 000 Physikern aus aller Welt mindestens 20 Jahre wissenschaftlich genutzt wird. Daran gemessen sind seine Kosten angemessen. Erst recht, wenn man sieht, wie viel Geld täglich im Finanzsektor bei dem Streben nach Gewinn verschwindet.

Die Existenz des Urknalls vor 13,7 Milliarden Jahren ist durch viele unterschiedliche Experimente nachgewiesen. Aber um zu verstehen, wie die Entwicklung vom Urknall bis heute abgelaufen ist, müssen wir die physikalischen Gesetze kennen, die bei den extremen Bedingungen kurz nach dem Urknall geherrscht haben. Diese Bedingungen können mit dem LHC heute im Labor kontrolliert nachgestellt werden, sodass wir die Gesetze genau untersuchen können und damit nicht nur spekulieren, sondern verstehen, wie die Welt sich entwickelt hat, eine Frage, die die Menschen seit jeher beschäftigt hat.

Ob LHC-Ergebnisse kurzfristig von direktem Nutzen sind, bezweifele ich. Das Ziel der Forschung ist ein tieferes Verständnis der Natur. Dass die Teilchenphysik aber als "Begleiterscheinung" weitreichenden Einfluss haben kann, zeigt die Entwicklung des World Wide Web bei Cern, das aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken ist.

Kann etwas passieren, und wer hat Angst vor dem schwarzen Loch? Drei Tage nach den ersten Kollisionen stehen Cern und Genf noch. Das wird auch so bleiben. Physiker sind zielstrebig, aber nicht dumm und würden keine Experimente machen, von denen sie selbst als erste aufgesaugt würden. Die Spekulationen über schwarze Löcher sind experimentell und theoretisch widerlegt. Alles andere ist Panikmache.

Wie immer, wenn Menschen Neuland betreten, sollten sie mit Vorhersagen vorsichtig sein. Columbus zog aus, um einen Seeweg nach Indien zu finden, doch das Ergebnis seiner Forschung war etwas ganz Neues, ein unbekannter Kontinent. Neuland im weitesten Sinn zu entdecken, sind Antrieb und Lohn für die Neugier, die die Menschen vorangebracht hat. Ich wünsche dem LHC den nötigen Rückenwind, nachdem es bisher an Stürmen nicht gemangelt hat - und als Lohn weitreichende neue Entdeckungen.

Der Physiker Prof. Albrecht Wagner war von 1991 bis 1998 Forschungsdirektor am Hamburger Desy (Deutsches Elektronen-Synchrotron) und anschließend bis März 2009 dessen Leiter. Der Träger des Bundesverdienstkreuzes ist zudem Hochschulratsvorsitzender der Universität Hamburg.