In der Therapie geht es jetzt vor allem darum, dass die Patientinnen wieder ein normales Verhältnis zum Essen finden. Die Bearbeitung psychischer Probleme ist in den Hintergrund gerückt.

Hamburg. Das Mädchen weigert sich, eine Frau zu werden, oder es bestehen große Probleme in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter - so lauteten bisher die Erklärungsmodelle für die Entstehung der Magersucht. Doch das Verständnis von dieser Erkrankung, bei der junge Mädchen sich bis in einen lebensgefährlichen Zustand hungern, hat sich gründlich gewandelt. "Jetzt gehen wir davon aus, dass die Magersucht auf biologischen Veränderungen im Gehirn beruht, für die es eine erbliche Veranlagung gibt", sagt Prof. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik am Universitätsklinikum Eppendorf.

So hätten neue Erkenntnisse gezeigt, dass bei diesen Patientinnen das Sättigungszentrum im Gehirn gestört ist, sodass viel früher ein Sättigungsgefühl eintritt. Auch für die Bewegungsunruhe, die bei vielen dieser Mädchen zu beobachten ist, gibt es eine biologische Erklärung. "Hinweise darauf liefern Untersuchungen an Ratten, bei denen man festgestellt hat, dass sie eine Hyperaktivität entwickeln, wenn sie über längere Zeit in einem halb hungrigen Zustand gehalten wurden und an Gewicht abgenommen haben", berichtet Schulte-Markwort. Starke Hinweise auf die erbliche Veranlagung gibt die Zwillingsforschung. So ließ sich nachweisen, dass bei eineiigen Zwillingen, die getrennt aufwuchsen, in 80 Prozent der Fälle beide an Magersucht erkrankten, bei den zweieiigen Zwillingen waren es 25 Prozent. Auch dass abgehungerte Mädchen sich beim Blick in den Spiegel immer noch als zu dick empfinden, geht möglicherweise auf Veränderungen im Gehirn zurück. Nach einer Studie der Ruhr-Universität Bochum fand sich bei Frauen mit Magersucht eine deutlich reduzierte Dichte grauer Zellen in Hirnregionen, die mit der Verarbeitung von Körperbildern zu tun haben.

Dazu, dass die Krankheit ausbricht, tragen Umweltbedingungen bei. "Oft sind es Mädchen in der Pubertät, die ein paar Kilo abnehmen wollen. Doch dann verselbstständigt sich das und sie geraten immer tiefer in den Teufelskreis der Magersucht hinein", sagt Schulte-Markwort. Psychische Probleme wie Konflikte zwischen Mutter und Tochter oder die Trennung der Eltern können Auslöser sein und die Erkrankung verstärken.

Durch die neuen Erkenntnisse hat sich auch die Behandlungsstrategie bei Magersucht radikal verändert. "Lange Zeit haben wir den Mädchen unterstellt, dass sie um jeden Preis abnehmen wollen. Jetzt verstehen wir, dass das ein biologischer Prozess ist. Das hat unsere Haltung gegenüber diesen Mädchen sehr verändert, indem wir viel nachsichtiger und viel mehr mit einer tröstlich-fürsorglichen Haltung darauf reagieren", erklärt der Kinder- und Jugendpsychiater. Er ist auch Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychosomatik an der Seepark-Klinik nahe Uelzen, wo Jugendliche mit Magersucht behandelt werden. Bislang war es dort üblich, dem Bewegungsdrang der Mädchen zum Beispiel mit dem Verbot des Treppensteigens zu begegnen, weil man davon ausging, dass sie sich nur deshalb so viel bewegten, weil sie noch mehr abnehmen wollten. "Aber jetzt wissen wir, dass sie gar nicht anders können, und es wird mit ihnen besprochen, was getan werden kann, damit sie der Hyperaktivität nicht so ausgeliefert sind. Unter Umständen erhalten sie auch Medikamente, die den Bewegungsdrang hemmen", sagt Schulte-Markwort.

Um das Problem des Essens zu bewältigen, stellen sich die Therapeuten verständnisvoll an die Seite der Patientinnen, mit einem genauen Plan, nach dem die Mädchen langsam wieder aufgepäppelt werden. Das Essen wird von Ökotrophologinnen begleitet, die genau festlegen, welche Kalorienmenge in welcher Woche - abhängig von der Gewichtszunahme - die Mädchen zu sich nehmen, um so das Sättigungszentrum wieder langsam auf ein normales Niveau zu bringen. "Erst wenn das Essen wieder einigermaßen normal funktioniert, beschäftigen wir uns in der Therapie damit, welche psychischen Konflikte eventuell noch bestehen und bearbeitet werden müssen", sagt Schulte-Markwort. Und die Hypothese der gestörten Mutter-Tochter-Beziehung ist weit in den Hintergrund gerückt. Deswegen gehören Besuchsverbote für Mütter, wie sie früher häufig ausgesprochen wurden, längst der Vergangenheit an. "Im Gegenteil, in der Seepark-Klinik werden die Mütter häufig mit aufgenommen. Und wir machen nicht die Erfahrung, dass das den Heilungsprozess hemmt", betont Schulte-Markwort.

Weil die Mädchen auch nach dem Klinikaufenthalt anfällig dafür bleiben, erneut magersüchtig zu werden, werden sie nach drei Monaten wieder für kurze Zeit aufgenommen und untersucht. Um Rückfällen vorzubeugen, bauen Schulte-Markwort und seine Kollegen jetzt eine Art Gruppentherapie per Internet auf. "Wir haben einen Server gemietet, und die Patientinnen erhalten bei ihrer Entlassung einen Zugangscode. Dann treffen sie sich mit anderen Mädchen, die sie aus der Gruppentherapie in der Klinik kennen, und dem Therapeuten regelmäßig zu einem verabredeten Zeitpunkt in einem Chatroom und besprechen aktuelle Probleme."

Prof. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Kinder- und Jugendpsychosomatik am Universitätsklinikum Eppendorf.

Die Klimaforschung in Hamburg genießt internationales Renommee und ist einer der wissenschaftlichen Leuchttürme der Stadt. 17 Uni-Institute, das Max-Planck-Institut für Meteorologie und das Institut für Küstenforschung des Geesthachter Forschungszentrums GKSS haben sich zum KlimaCampus zusammengeschlossen. Unter dem Motto "Neues aus der Klimaforschung" präsentieren Wissenschaftler des KlimaCampus den Abendblatt-Lesern einmal im Monat neueste Ergebnisse aus ihrem jeweiligen Forschungsgebiet. Dr. Frauke Feser arbeitet beim GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht am Institut für Küstenforschung, das den Lebensraum Küste untersucht, Grundlagen für die regionale Modellierung erarbeitet und daraus Zukunftsszenarien ableitet.