Menschenmengen verhalten sich wie Fische. Nur fünf Prozent einer Gruppe geben die Richtung vor, fand ein Biologe heraus.

Hamburg. Es glitzert und schimmert in dem Aquarium wie nach einem Lametta-Regen. Hunderte, vielleicht Tausende kleiner Stichlinge schwänzeln hektisch in dem Becken hin und her. Ihre kleine Körper reflektieren das fahle Deckenlicht des Universitäts-Instituts, wenn sie nahe an der Glaswand vorbeischwärmen. Urplötzlich wechseln die Fische immer wieder im Zickzack die Richtung, alle gleichzeitig, alle mit demselben Ziel, als hörten alle auf ein Kommando. Jens Krause klopft sanft an die Scheibe, sein Lächeln wirkt dabei wie der Gesichtsausdruck eines Vaters, der seinen Kindern beim Fußballspielen zuguckt.

Der 44-jährige, schlaksige Wissenschaftler hat schon als Kind Stichlinge aus den Gräben in Zehlendorf gefischt und seine Guppys im Aquarium beobachtet. "Eigentlich mach ich das noch immer - langweilig, oder?", fragt er mit einem Lächeln. Langweilig? Wohl nicht: Seine Ergebnisse stoßen weltweit auf immer mehr Interesse, sogar die US Army hat sich schon bei ihm gemeldet. Denn Krause und sein Team haben erstaunliche Parallelen zwischen Fisch- und Menschenschwärmen entdeckt. Der Mensch, so die Erkenntnis, ist eben oft auch nur ein Fisch. Zumindest was sein Verhalten in der Masse angeht.

Im Halbdunkel des Aquarienraums drängt sich diese Entdeckung noch nicht auf. In etlichen Becken schimmert grünliches Wasser, es blubbert und rauscht. Störe aus Norwegen, Plötze, Barsche oder Stichlinge schweben scheinbar ziellos in den vielen Aquarien. Mit einem lauten Klatschen schießt plötzlich ein großer Fisch gegen eine Becken-Abdeckung, als der Fotograf einen Scheinwerfer einschaltet. "Das irritiert ihn wohl", sagt Krause verständnisvoll. Hier am Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie forscht er, warum sich alle Fischschwärme so wie die Stichlinge verhalten, wer diese geheimen Kommandos gibt oder was dieses so gleichförmig anmutende Verhalten auslöst. Mit einer Hochgeschwindigkeitskamera konnten die Forscher entlarven, was tatsächlich hinter den scheinbar gleichen Richtungswechseln steckt: In Zeitlupe ist da ein Schwarm zu erkennen, wie er urplötzlich eine Kehrtwendung macht. Aber es sind nicht alle Fische, die zeitgleich drehen, sondern einige wenige, die in Sekundenbruchteilen den Weg für alle vorgeben. Die Wissenschaftler entwickelten daraus eine Computersimulation. Danach reichen fünf Prozent einer Gruppe aus, um einen Schwarm zu lenken. Genau diese Theorie testete Krause bei einer Gruppe von Studenten - mit Erfolg. Im nächsten Schritt wagten sie sich an ein Großexperiment mit 200 Menschen.

"Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal über das Verhalten von Menschen forschen würde", sagt Krause und schaltet in seinem benachbarten Büro den Rechner an. Durch die hohen Fenster des weißen Gründerzeit-Gebäudes fällt der Blick auf das Ufer des Berliner Müggelsees. Auf dem Computer-Bildschirm läuft das Experiment: 200 freiwillige Probanden gehen ziellos in der Mitte einer großen Halle herum, als würden sie auf ein großes Ereignis warten. Was die meisten nicht wissen: Zehn von ihnen, also genau fünf Prozent, hatten genaue Anweisungen bekommen, wohin sie in der Halle nach einiger Zeit gehen sollten. Den anderen Teilnehmern wurde lediglich gesagt, dass sie in normaler Gehgeschwindigkeit durch die Halle gehen und sich möglichst in der Gruppe halten sollen. Absprachen gab es nicht, die ernannten Anführer durften nicht reden, sondern sollten gezielt und stumm in die vorgegebene Richtung marschieren.

Scheinbar ziellos mäandriert die Ansammlung zunächst im Raum, ein Computerprogramm stellt die Menschen als rote (ahnungslos) und blaue (wissend) Punkte dar. Wie auf ein geheimes Kommando hin formieren sich dann die Punkte und folgen jenen, die eine Richtungsanweisung bekommen haben. Ohne Anweisungen oder Diskussionen wird die Gruppe zu einer Formation, zu einem Schwarm, der geschlossen in eine entfernte Ecke der Halle marschiert.

Eine eindrucksvolle Bestätigung der Fünf-Prozent-Regel: Die Masse folgt wenigen Führern - ohne zu ahnen, dass es sie gibt! "Wir waren selbst verblüfft, wie sich dieses Prinzip auch auf Menschen übertragen lässt", sagt Krause.

Aktuell forscht er nun mit seinen Studenten, woran Fische oder Menschen erkennen, wer die nötigen Informationen hat, der alle folgen. "In größeren Gruppen wird nahezu zwanghaft kopiert, was andere machen", sagt Krause. Zum Beispiel an einer Fußgängerampel: Wenn nur einer losgeht, obwohl das Licht Rot zeigt, folgen viele, die vorher noch geduldig gewartet haben. Ähnlich das Verhalten an einem unbekannten Flughafen. "Man weiß nicht wohin, schaut sich um und folgt jenen, die zielgerichtet losmarschieren." Gerade Menschen könnten besonders gut erkennen, wer der geheime Träger des Wissens ist. Es sind besondere Gesten, direkte Blicke, die die Masse als Informationsvorsprung interpretiert und ihnen folgt, bevor die Entscheidung tatsächlich reflektiert wird, sagt der Forscher. Kopieren kommt meist vor Kapieren, weil es Zeit und Energie spart.

Kein Wunder, dass Krauses Forschungen auf Interesse stoßen. Die Polizei hat sich bei ihm mit der Frage gemeldet, wie bei einer Demonstration gewaltbereite Gruppen von anderen Teilnehmern getrennt werden könnten. Historiker versprechen sich Hinweise über den Verlauf früherer Schlachten. Die US Army verspricht sich strategische Hilfe. Und Stadtplaner interessieren sich für die Frage, wie U-Bahn-Stationen oder Fußball-Stadien rasch evakuiert werden können.

Denn in Zeiten mit immer mehr Großveranstaltungen und der Gefahr von Massenpaniken könnten manche Zwischenfälle womöglich vermieden werden, sagt Krause: "Wir haben zum Beispiel zeigen können, dass für das rasche Evakurieren bei einer Veranstaltung nicht nur der kritische Wert von fünf Prozent wichtig ist. Es ist auch besonders effektiv, wenn die Ordner nicht nur am Rand stehen, sondern auch mittendrin."

Es gibt aber auch Ausnahmen bei der Macht der Anführer, haben die Forscher erkannt: Wenn ein Fischschwarm auf eine erkennbare Gefahr wie etwa einen Raubfisch zusteuern würde, machen nur wenige Fische den Richtungswechsel mit. Wenn der scheinbare Informationsvorsprung mit dem eigenen Wissen kollidiert, wird der Zwang zum Kopieren offenbar schwächer. Eine völlige Kontrolle der Masse ist dann kaum noch möglich. Ein Schwarm ist nicht dumm, das Kopieren und Folgen ist eben nur ein besonders effizientes Mittel, um schnell zu Richtungsentscheidungen zu kommen. Eine feste Choreografie der Massen sozusagen. Biologisch verankert, aber mit Grenzen. "Damit sind wir beim Stichwort Schwarm-Intelligenz", sagt Krause. Wie ist ein Schwarm organisiert, wie funktioniert er?

Eine Frage, mit der sich derzeit viele Wissenschaftler beschäftigen. Die "Weisheit der Vielen" (Wisdom of the Crowds) genannt, erlebt eine Blüte. Die Universität Witten/Herdecke experimentiert mit Prognosen, die auf dem Informationsschatz von vielen beruhen - kollektive Intelligenz sei einzelnen Umfragen oft überlegen, heißt es dort. Verhaltensforscher Krause stützt diese These: "Es ist wirkungsvoller, 1000 Leute nicht zu befragen, wen sie wählen würden, sondern was sie vermuten, wie das Ergebnis aussehen wird."

Krause und sein Berliner Team haben dazu im Liebermannhaus am Brandenburger Tor über drei Monate erneut ein Großexperiment unternommen, bei dem es wieder um Menschen und nicht um Fische ging. Mehr als 6000 Besucher sollten die Zahl von Murmeln in einem großen Glas schätzen. Auch wenn es dabei etliche Ausreißer nach oben oder unten gab - insgesamt gesehen war der Mittelwert der Schätzungen sehr genau. Die Erkenntnis scheint höchst demokratisch: Die Vielfalt der Informationen führt zu einem besseren Ergebnis.

Derzeit untersuchen die Berliner Forscher nicht nur, wie ein Schwarm funktioniert, sondern auch, wie weit diese Weisheit der Massen reichen könnte: "Es gibt natürlich Grenzen, wenn ganz bestimmtes Expertenwissen fehlt." Schwer vorstellbar auch, dass das Prinzip der Schwarm-Intelligenz Führungshierarchien in Unternehmen ablösen wird. "Aber es ist ein wichtiges Werkzeug, um zu besseren Entscheidungen zu gelangen", sagt Krause, der über solche Fragen auch immer wieder mit Managern debattiert.

Das Schwärmen seiner Stichlinge hat damit immer weitere Kreise gezogen - auch wenn es zunächst schwer vorstellbar erscheint, dass diese kleinen, glitzernden Fische so viel Ähnlichkeit mit uns Menschen haben sollen. Doch Krause lässt da keinen Zweifel. Versonnen blickt er auf das Becken, in dem die Fische geschlossen die Richtung wechseln, wenn einer der menschlichen Beobachter sich kurz rührt. In Wahrheit, das weiß man jetzt, folgen sie einigen besonders kecken Artgenossen. So wie es Fußgänger an einer Ampel auch tun, wenn sie bei Rot losmarschieren, nur weil es ein anderer vor ihnen wagt. "Wirbeltiere verhalten sich halt sehr ähnlich", sagt Krause und blickt mit einem Lächeln auf. Ob Fisch oder Fleisch - so groß ist der Unterschied wohl tatsächlich nicht.