Zwölfmal in diesem Jahr der Mathematik veröffentlicht das Abendblatt eine Kolumne über mathematische Alltagsphänomene. Autor ist der Wissenschaftsjournalist Christoph Drösser und Buchautor bei Klett ("Der Mathematik-Verführer"). Hier die zweite Folge:

Stellen Sie sich folgendes Spiel vor: Jemand hat am Rand der Autobahn von Hamburg nach Berlin eine zwei Zentimeter breite und zwei Meter hohe Latte in den Boden geschlagen. Irgendwo zwischen Hamburg und Berlin, Sie haben keine Ahnung, wo. Sie fahren die Strecke nachts mit dem Auto und haben eine Pistole dabei. Zu einem Zeitpunkt, den Sie beliebig wählen können, kurbeln Sie die Scheibe herunter und schießen in Richtung Straßenrand - einmal. Wenn Sie die Latte treffen, haben Sie gewonnen.

Würden Sie auch nur einen Euro auf dieses Spiel wetten? Selbst wenn der Gewinn bei einem Treffer eine Million wäre? Nein? Genau das machen aber Millionen Menschen jede Woche, wenn sie einen Lottoschein ausfüllen. Die Chance auf sechs Richtige ist genauso groß wie die Aussicht des nächtlichen Schützen, die Latte zu treffen: etwa eins zu 14 Millionen.

Warum machen Menschen das? Wir haben keinen eingebauten Sinn für Wahrscheinlichkeiten. Je nachdem, wie ein Problem formuliert ist, täuschen wir uns über unsere Chancen. Aus 49 Zahlen die richtigen 6 auszuwählen kommt uns leichter vor, als im Dunkeln auf langer Fahrt die Latte zu treffen. Die Gewinnwahrscheinlichkeit ist aber nur eine Seite. Die andere: Was kriege ich, wenn ich gewinne? Und: Ist das Spiel fair?

Ein anderes Beispiel: In einer Kneipe macht jemand ein Angebot, um Geld zu würfeln. Sie haben vier Würfe, und wenn mindestens eine 6 dabei ist, bekommen Sie einen Euro - sonst müssen Sie einen Euro zahlen. Ist das Angebot fair?

Mathematisch ist das die Frage nach dem sogenannten Erwartungswert. Man geht dazu alle möglichen Fälle durch, berechnet jedes Mal Gewinn und Verlust und kommt auf einen "Durchschnittsgewinn" für einen Euro Einsatz. Bei einem fairen Spiel kommt null heraus - beide Seiten haben die gleichen Chancen. Bei dem Kneipen-Würfelspiel ergibt sich, dass Sie im Schnitt 3,5 Cent pro Spiel gewinnen. Sie sollten dem Fremden sagen, dass Sie auf sein Angebot eingehen, aber gerne den Einsatz verzehnfachen würden.

Beim Lotto wird übrigens nur die Hälfte der Einnahmen ausgeschüttet, also beträgt Ihr mittlerer Verlust pro Euro 50 Cent. Auf lange Sicht verliert jeder. Trotzdem gebe ich gern zu, dass ich, wenn der Jackpot mal wieder schwindelnde Höhen erreicht, wie derzeit auf 18 Millionen Euro, doch ab und zu einen Lottoschein ausfülle. In unserem primitiven Säugetierhirn stellen wir den Riesengewinn einem leicht verschmerzbaren Einsatz gegenüber - auch wenn sechs Richtige mit Superzahl noch viel unwahrscheinlicher sind als der gewöhnliche Sechser.