Die niederländische Stadt ist zum Wallfahrtsort für die Verkehrsplaner aus aller Welt geworden. Im Grunde gibt es dort nur drei Gesetze: Tempo 30, rechts vor links - und aufpassen!

Groningen. Irgendwas stimmt hier nicht! Keine quietschenden Reifen, kein Hupkonzert. Ampeln, Stopp- und andere Hinweisschilder? Fehlanzeige! Und ein Stau? Ganz und gar nicht: Geradezu brüderlich teilen sich Autos, Fahrräder und Fußgänger Straßen und Wege. Und das nicht auf dem Dorfe, sondern in der Stadt Drachten westlich von Groningen im Norden der Niederlande. Dort wird getestet, was eines Tages in ganz Europa Wirklichkeit werden kann: Partnerschaftlicher Verkehr mit weniger Direktiven, aber mehr Aufmerksamkeit und Verantwortung für den Einzelnen.

Ampeln und Schilder sollen nur noch Platz haben, wenn es aus Sicherheitsgründen unbedingt sein muss. Nach anfänglicher Skepsis hat sich das Gros der 50 000 Drachtener an relativ reibungsloses Miteinander gewöhnt. Unfälle, Verletzungen und PS-starke Aggressivität tendieren gen null.

Schon die Einfahrt nach Drachten lässt staunen. Mit Tempo 30, so ist es in der gesamten Stadt vorgeschrieben, schnurrt der Bus 314 von der Autobahn ins Zentrum. Ohne einen einzigen Stopp. Sechs Schilder sind auf dem Weg zu entdecken - und keine einzige Ampel. 80 Prozent der Signalanlagen wurden in den vergangenen Jahren abgebaut. Und selbst Fahrbahnmarkierungen wurden auf ein Minimum reduziert. Für Hamburger Verhältnisse sind es ungewohnte, paradiesische Zustände. Wo sind die Poller, wo ist der Schilderwald?

"Großteils verschrottet!", sagt Hans Monderman (61), Verkehrsplaner und Schilderstürmer aus Passion. Wenn die Kollegen aus dem Drachtener Rathaus Kaffeepause machen, sucht Monderman vor der Haustür Entspannung. Er geht mit Vorliebe auf der Straße spazieren. Auf dem Laweiplein, einem nach seinen Vorstellungen ausgebauten Kreisverkehr im Herzen der Stadt. Täglich 22 000 Autos, nicht weniger Radfahrer und Passanten sowie mehrere Buslinien harmonieren prächtig. Allgemeine Erkenntnis: Konstantes Langsamfahren ist schneller als Stopp and Go. Motto: Verkehrsregelung mit möglichst wenig Vorschriften.

Fröhlich pfeifend überquert Monderman den Laweiplein. Immer wieder, wie ein kleiner Junge. Verkehrsteilnehmer verständigen sich mit Blickkontakt und Handzeichen. Es läuft. "Weil die Menschen Hirn und soziales Denken einschalten", philosophiert Monderman. Wenn alles durch Schilder reglementiert sei, nutze jeder gnadenlos seinen Raum. Der Autofahrer halte zwar am Zebrastreifen (weil er muss!), pocht sonst aber auf sein Recht. Wartet bei Rot brav an der Ampel, um bei Grün Gas zu geben. Und dann gnade Gott . . .

In Drachten ist alles ganz anders. Eigentlich existieren nur drei Gesetze: Tempo 30, rechts vor links, Augen auf! Gute Sicht nach allen Seiten trägt zum gleichmäßigen Verkehrsfluss bei. Ebenso wie abgesenkte Gehwege, praktisch ohne Bordstein. "Ganz bewusst", sagt Hans Monderman, von Minute zu Minute besser in Schwung, "denn unsicher ist sicher." Wie bitte? "Wer sich absolut sicher und total im Recht fühlt, nimmt sich nicht in Acht", fährt der Verkehrs-Guru fort. "Mehr Selbstverantwortung stärkt die Aufmerksamkeit." Sonst glaube jeder, in seinem Revier der König zu sein.

In Oudehaske, Haren und Drachten wird bewiesen, dass es sich mit weniger Ampeln und Schildern besser fährt. Im Ort Makkinga stehen nur zwei Schilder. An den Ortsrändern. "Verkeersbordvrij!" steht dort schwarz auf weiß. "Verkehrsschilderfrei!"

Kein Wunder, dass sich Stadtplaner und Verkehrsprofis aus aller Welt magnetisch angezogen fühlen: Drachten und die Nachbarorte gelten geradezu als Wallfahrtsorte. Fachleute aus 40 Nationen zeigten bisher Interesse. Natürlich auch aus Deutschland. Hierzulande stehen 20 Millionen Verkehrsschilder an den Straßen. Jedes kostet im Schnitt 350 Euro; und nicht alle machen Sinn.

"Unsere Autofahrer sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr", sagt Dirk Fischer, verkehrspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, zum Abendblatt. "Eine verkehrszeichenarme Stadt hilft, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen." Eigentlich sind sich alle Parteien einig, in der Praxis aber passiert kaum etwas. Auch Hamburgs Grüne haben den Blick gen Holland gerichtet. Im Bürgersaal des Rathauses präsentiert Hans Monderman morgen um 19 Uhr seine Vorstellungen des Verkehrs von morgen.

Arbeitstitel: Entspannt mobil. Codewort: Shared Space. Frei übersetzt ist damit der von allen gemeinsam genutzte Raum gemeint. Dahinter verbirgt sich ein noch bis 2008 laufendes EU-Projekt, an dem sieben europäische Städte mit unterschiedlichen Problemen teilnehmen. Dabei geht es auch, aber nicht nur um konsequentes Abforsten des Schilderwalds. Bohmte zum Beispiel, ein niedersächsischer Ort mit 13 500 Einwohnern bei Osnabrück, wird durch eine Landstraße quasi gespalten. Binnen 24 Stunden brausen 12 600 Fahrzeuge quer durch Bohmte.

Damit der Alltag dort lebenswerter wird, soll die Shared-Space-Philosophie greifen. Das Credo: Städte sind für die Menschen da, nicht nur für den Verkehr. Schnellstraßen, Brücken und riesige Kreuzungen sind für Fußgänger und Radfahrer längst zur Zumutung geworden. Dieses Rad soll zurückgedreht werden. Ohne das Ziel, die Autos abschaffen zu wollen. Verkehr soll nicht reduziert, sondern sicherer gemacht werden.

Ob und wie die in sieben kleineren Städten getesteten Lösungen auch für Großstädte praktikabel sind, wird sich nach der Auswertung zeigen. Blumenkübel mitten auf der Straße, künstliche Hügel oder andere Schikanen bringen nach Mondermans Auffassung wenig, sondern schüren nur den Frust der Autofahrer.

In Brasilien gibt es ähnliche, verbotsmindernde Aktivitäten, in Kolumbien, aber auch in London. Der Bürgermeister des Distrikts Kensington formte die dortige High Street zur schilderfreien Zone. Gleichfalls mit weltweiter Beachtung. Im turbulenten Kensington ist die Zahl der Unfälle um 60 Prozent gesunken.

"Voraussetzung ist, dass Bürger, Politiker und Verwaltung an einem Strang ziehen", sagt Claus Becker (60), Mondermans Weggefährte in Deutschland. Becker ist Abteilungsleiter der GfL Planungs- und Ingenieurgesellschaft, eine Tochter der niederländischen Grontmij-Gruppe. Weltweit kümmern sich 6500 Mitarbeiter - überwiegend in staatlichem Auftrag - um Raum-, Landschafts- und Umweltplanung. Von der Deutschland-Zentrale in Bremen-Schwachhausen aus organisieren 100 Fachleute zeitgemäße, menschenfreundliche Verkehrsprojekte. Wie zum Beispiel in Bohmte.

Die Erfahrungen werden jährlich zweimal bei gemeinsamen Treffen ausgetauscht. In Drachten, Haren, Emmen (alle Holland), in Bohmte, Ejby (Dänemark), Oostende (Belgien) und Suffolk County (England).

Für Chefdenker Hans Monderman bedeutet das ein Leben auf Achse. Im Anschluss an seinen Vortrag im Hamburger Rathaus reist er in die USA. Dort wie auch in Europa wurde er mehrfach als "Innovator des Jahres" geehrt. Bis 2020, so die Vision, könne der Schilderwald fast zur Hälfte gelichtet werden. Wenn man will.

Noch aber müssen sich Monderman & Co. mit dem funktionierenden System am Laweiplein in Drachten begnügen. Getoppt wird es nur noch vom Kreisverkehr rund um den Triumphbogen in Paris. Dieser wird tagtäglich von 150 000 Autos passiert - fast immer ohne Crash und ohne Ampeln oder Stoppschilder.