Fragt man Menschen danach, was ihnen im Leben am wichtigsten ist, lautet eine der häufigsten Antworten: Ich möchte gesund bleiben. Doch was heißt eigentlich gesund?

Hamburg. Gesundheit, definierte die Weltgesundheitsorganisation WHO 1948 in ihrer Verfassung, ist der "Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens". Eine Definition, die immer wieder heftig kritisiert wurde, wie Professor Heinz-Peter Schmiedebach, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik in der Medizin am Universitätsklinikum Eppendorf sagt: "Sie spiegelt eine Utopie wider, die kaum erreichbar ist."

Allerdings, so Schmiedebach, habe diese Definition auch ihr Gutes: "Darin liegt auch die Aufforderung, sich nicht allein mit der körperlichen Gesundheit zufrieden-zugeben, sondern sich immer wieder darum zu bemühen, das geistige und soziale Wohlbefinden eines Menschen wiederherzustellen. So ist das Streben nach Gesundheit ein ständiger Prozess, der immer wieder neue Herausforderungen in sich birgt."

So kann zum Beispiel Arbeitslosigkeit zur gesundheitlichen Belastung werden. "Zwar ist die Arbeitslosigkeit an sich keine Krankheit, aber sie kann zu Störungen führen, die in eine Krankheit münden. Insofern ist sie ein sozialer Faktor, der möglicherweise krank machen kann."

"Wenn eine Diagnose steht, kann man von Krankheit reden"

Hier kommt auch zum Tragen, wie jemand seine persönliche Situation empfindet, ob er sich wohlfühlt oder unter einer Belastung leidet. "Das subjektive Wohlbefinden ist ein entscheidendes Kriterium", sagt Schmiedebach. Daran lässt sich auch messen, wann aus einer Befindlichkeitsstörung wie gelegentlichen Magenbeschwerden eine behandlungsbedürftige Krankheit wird. "Wenn jemand eine andauernde Befindlichkeitsstörung subjektiv als Belastung empfindet, wird er professionelle Hilfe suchen. In dem Moment, wo eine medizinische Diagnose steht, kann man von Krankheit reden."

Doch die Grenzen sind fließend und oft nicht einfach zu ziehen. "Wenn jemand mit Magenschmerzen einen Arzt aufsucht und die körperliche Untersuchung und eine Magenspiegelung keinen krankhaften Befund ergeben, ist zunächst erst mal geklärt, dass er nicht magenkrank ist. Wenn er aber weitere sechs bis acht Wochen unter diesen Beschwerden leidet, wird ein Psychosomatiker versuchen zu klären, ob die körperlichen Beschwerden eine seelische Ursache haben können. Auch dann ist dieser Mensch krank, obwohl kein krankhafter körperlicher Befund vorliegt."

Ein anderes Beispiel ist der Bluthochdruck. "Jemand, der unter zu hohem Blutdruck leidet, fühlt sich nicht unbedingt krank. Trotzdem muss er behandelt werden, damit es nicht zu schweren Folgeerkrankungen wie zum Beispiel einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall, kommt. Das fehlende Krankheitsgefühl macht es dann oft schwer, die Krankheit und ihre Behandlung zu akzeptieren", sagt Schmiedebach.

"Die Genetik weckt den Traum, das Leben zu beherrschen"

Doch wann fängt Krankheit an? Die moderne Medizin verfügt über immer ausgefeiltere Methoden der Bildgebung, um schon kleinste Veränderungen im Körper festzustellen. Die Labormedizin liefert innerhalb kürzester Zeit umfangreiche Auswertungen von Blutuntersuchungen. Doch wenn zum Beispiel im Blut alles im Normbereich liegt und sich nur ein erhöhter Cholesterinwert findet, heißt das noch nicht unbedingt, dass man krank ist. "Solche Werte sind aber Warnzeichen für spätere Krankheiten, die man möglicherweise durch präventive Maßnahmen verhindern kann. Ärztliches Handeln hat auch die Aufgabe, Erkrankungen vorzubeugen, und beschränkt sich nicht nur auf die Behandlung von Krankheiten", sagt Schmiedebach. Dank des medizinischen Fortschrittes verfügen Ärzte über ein ständig wachsendes Kompendium an Möglichkeiten. Das weckt Hoffnungen und Träume bei Medizinern und Patienten. "So haben die Erfolge der Genetik im 20. Jahrhundert in der Medizin den Traum geweckt, das Leben zu beherrschen. Das zeigt sich daran, dass die Entdeckung des menschlichen Erbguts als Schlüssel zum Leben" bezeichnet wurde. Doch davon, dass das Realität wird, sind wir noch weit entfernt." Die Genetik und die Stammzellforschung sind wohl zurzeit die Forschungsfelder, die die größten Träume wecken, den Traum, von der Züchtung von Ersatzgewebe, das problemlos eingesetzt werden kann, wenn menschliche Organe nicht mehr funktionieren. Aber auch auf anderen Gebieten wie zum Beispiel der Krebsforschung gibt es Ergebnisse, aus denen neue Therapieansätze resultieren. Sie wecken Hoffnungen und schüren enorme Illusionen. "Von der Medizin als dem traditionellen Heilsbringer wird immer viel erwartet - die Rettung in der Not."

Doch für viele Krankheiten gibt es immer noch keine Therapie. "Medizin hat auch heute ihre Grenzen. Krankheit ist Bestandteil unseres Lebens, und die Medizin kann noch so viele Fortschritte machen, es wird immer Krankheiten geben, auch in den Wohlstandsgesellschaften", sagt Schmiedebach und sieht dabei auch einen positiven Aspekt. "Dadurch, dass Krankheit in der Gesellschaft existent ist, werden auch Eigenschaften mobilisiert, die sehr positiv sind: Man ist solidarisch mit Kranken, leistet Hilfe und Beistand. Seit dem 19. Jahrhundert, in dem die Medizin sehr große Fortschritte gemacht hat, sind in den Wohlstandsgesellschaften immer wieder Regelungen getroffen worden, um gesellschaftliche solidarische Unterstützung zu leisten."

Als Beispiele nennt Schmiedebach die Kranken- und die Rentenversicherung. "Heute stoßen wir an die Grenzen dieses Systems, weil es in dieser Form nicht mehr bezahlbar scheint. Ich glaube, dass in den freiwilligen Tätigkeiten noch ein ungeheures Potenzial liegt."

"Krankheit mit Schuld zu verknüpfen, ist problematisch"

Doch der zunehmende Kostendruck lässt auch alte Denkansätze wieder aufleben, die die Solidargemeinschaft auf die Probe stellen: die Verknüpfung von Krankheit und Schuld. "Krankheit mit Schuld zu verknüpfen, halte ich für hochproblematisch, weil niemand sagen kann, wo die Grenzen gezogen werden. Ich halte zwar viel von Eigenverantwortung, aber nicht mit den Mitteln der moralischen Verurteilung, der Strafe oder Schuldzuweisungen."