Polarforschung: Wie viel Schutz braucht die Antarktis? Forscher berichteten an Bord der “Polarstern“, wie sie die Unterwasserwelt erkunden

Wenn Eisberge im stürmischen Meer treiben und über den Meeresboden kratzen, leiden Schwämme, Moostierchen, Weichkorallen, Borstenwürmer, Blumentiere, Seescheiden, Nesseltiere, Flohkrebse - mehr als 5000 marine Arten, die größer als einen halben Millimeter sind, tummeln sich auf dem Meeresboden rund um die Antarktis. Insgesamt leben vermutlich 20 000 Arten in den eisigen Gewässern des Kontinents. "Es haben sich hochkomplexe Bodengemeinschaften gebildet, die in ihrer Struktur und Sensibilität den Korallenriffen ähneln. Diese wollen wir genauer erforschen", sagte Professor Wolf Arntz Mitte vergangener Woche an Bord des Forschungsschiffes "Polarstern" in Bremerhaven. Dorthin war das Forschungsschiff des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) nach einer knapp siebenmonatigen Reise zurückgekehrt.

Auf der 21. Reise der "Polarstern" in die Antarktis hatte Professor Arntz, der vom 17. November vergangenen Jahres bis zum 18. Januar an Bord war, ein langfristig angelegtes wissenschaftliches Feldexperiment am Meeresboden geleitet. "Wir wollen erfahren, in welcher Weise bodenlebende Organismen freie Flächen am Meeresgrund wieder besiedeln", sagte der Biologe. Die Wissenschaftler vermuten seit langem, dass sich die Unterwasserfauna rund um die Antarktis nur sehr langsam von Verletzungen erhole. So seien beispielsweise die großen Schwämme, die in den antarktischen Gewässern gefunden worden sind, offenbar Jahrhunderte alt. "Experimente zeigen, dass diese Tiere in 13 Jahren noch nicht einmal einen Millimeter wachsen", sagte der Forscher im Gespräch mit dem Abendblatt. In Nord- und Ostsee kehre die Bodenfauna hingegen nach zwei Jahren wieder zurück.

Um die Besiedlung von Freiflächen zu erkunden, wurde nun in 300 Metern Tiefe auf dem Schelf nahe der Neumayer-Forschungsstation des AWI der Boden mit einem Grundschleppnetz von den Organismen befreit. Das Experiment simuliert somit die Folgen, wenn ein Eisberg über den Boden kratzt. "Tausende von Eisbergen schaffen auf ihren Wegen rund um die Antarktis immer wieder freie Flächen. Doch wir wissen nie, wann diese Flächen freigelegt wurden. Deshalb haben wir uns zu diesem langfristigen Experiment entschieden. Denn so kennen wir die Stunde Null, in der die Besiedlung wieder beginnen kann", erläuterte der Biologe. Dabei sind nicht nur die Art der Siedler, ihre Zusammensetzung und Aufeinanderfolge von Interesse, sondern vor allem auch die Geschwindigkeit, mit der die Besiedlung erfolgt. "Mit diesen Daten, die wir in den kommenden zehn Jahren mittels Beobachtung und Probenentnahme erhalten werden, können wir endlich sichere Aussagen darüber machen, wie belastbar das antarktische Ökosystem ist", sagt Prof. Arntz. Noch schützt der Antarktis-Vertrag diesen fast unberührten Kontinent; die Ausbeutung der mineralischen Ressourcen wurde zunächst einmal um 50 Jahre hinausgeschoben. Seit allerdings Lagerstätten von Eisenerz, Chrom, Kupfer, Gold, Nickel, Platin und anderer Mineralien sowie Kohle, Erdöl und Erdgas vermutet werden, wachsen wirtschaftliche Begehrlichkeiten. Sie könnten das sensible Öko-System aus dem Gleichgewicht bringen. Zumal dieses offenbar auch durch das Ansteigen der globalen Temperatur unter Druck geraten könnte.

"Auf unserer Forschungsfahrt in die antarktischen Gewässer, haben wir als weltweit erste Forscher die Unterwasserfauna um die norwegische Bouvet-Insel untersucht. Bis zu dieser Insel, die an der Grenze zur Antarktis liegt, sind bereits Steinkrabben wieder vorgedrungen. Sie sind vor 15 Millionen Jahren, als die Antarktis vereiste, aus dieser Region vertrieben worden. Wir nehmen an, dass ihre Rückkehr mit der Erhöhung der Gewässertemperatur zu tun hat, denn die Steinkrabben meiden Gewässer, die fast zwei Grad unter Null kalt sind", so der Wissenschaftler. Würden die Steinkrabben mit ihren kräftigen Scheren wieder auf den antarktischen Schelf vordringen, wird es dort ein großes Seeigel- und Muschelsterben geben. So haben die Muscheln, da sie sich nicht gegen natürliche Feinde schützen müssen, nur noch ganz dünne Schalen. "Eine leichte Beute für die Krabben. Und an der Nordseite der Drake-Passage stehen zudem bereits in großer Zahl Taschenkrebse. Sie warten anscheinend nur darauf, die Region zu erobern."

Ein weiterer Hinweis auf eine globale Temperaturerhöhung könnte auch ein Fund sein, den die Forscher auf der jüngsten Expedition unter der Eisdecke in der Antarktis machten. Aus diesem Wasser fischten sie zum ersten Mal bis zu vier Zentimeter große Manteltiere, die Salpen, berichtete Prof. Bathmann, der die Eis-Experimente an Bord der "Polarstern" leitete. Bereits seit 100 Jahren beobachten die Forscher, dass die Salpen mit warmen Strömungen aus dem Indischen Ozean immer näher an die Antarktis gelangen. "Wir wissen nicht, ob es sich um ein natürliches Phänomen handelt, oder ob die Biologie uns hier einen Hinweis auf die Folgen einer globalen Temperaturerhöhung gibt", sagte der Forscher. Das werden erst weitere Experimente - auch auf neuen Reisen der "Polarstern" - klären können.