Physiker legen sich nach neuen Versuchen fest: Neutrinos sind nicht schneller, sondern höchstens genauso schnell wie Licht.

Kyoto. "Es ist gefährlich, Wetten gegen Einstein abzugeben", sagte Rob Plunkett, Sprecher des amerikanischen Teilchenforschungszentrums Fermilab. Das war im September 2011. Soeben hatten Kollegen vom Opera-Experiment im italienischen Gran Sasso eine vermeintliche Sensation bekannt gegeben: Neutrinos, Elementarteilchen mit besonderen Eigenschaften, sollten 60 milliardstel Sekunden schneller geflogen sein, als man es bei Lichtgeschwindigkeit annehmen würde - ein Ding der Unmöglichkeit, der speziellen Relativitätstheorie zufolge.

Jetzt, neun Monate und etliche Messungen später, ist wohl endgültig klar: Einsteins Postulat wird weiter gültig bleiben. Wie die Physiker der Opera-Kollaboration und Forscher von drei weiteren Gran-Sasso-Experimenten gestern auf der Internationalen Neutrino-Konferenz in Kyoto bekannt gaben, sind die Partikel höchstens genauso schnell wie Lichtteilchen (Photonen). Wenn ein Tempounterschied besteht, dann beträgt er nur zwei bis drei milliardstel Sekunden - genauer können die Forscher es nicht messen.

+++ Wie die Experimente funktionieren +++

"Der Effekt, den wir bei früheren Messungen gesehen haben, ist verschwunden", sagte Caren Hagner, Professorin für Experimentalphysik an der Uni Hamburg. Sie hatte mit ihrem Team einen Teil des Detektors gebaut, den die Forscher im Gran Sasso nutzen. Bereits im Februar hatte das Opera-Team mitgeteilt, dass wahrscheinlich ein schief sitzendes Kabel und eine nicht vorgenommene Korrektur an einer Art Taktgeber am Detektor die Daten verfälscht haben. Jetzt ist klar: Die beiden Fehler waren tatsächlich für den vermeintlichen Geschwindigkeitsrekord verantwortlich. Nachdem das Kabel richtig platziert und die Korrektur durchgeführt worden war, zeigte sich eindeutig, dass die Neutrinos nicht schneller ins Ziel kamen, sagte Caren Hagner. "Ich bin erleichtert, dass wir die Fehler jetzt gefunden haben." Ihr Kollege Marco Pallavicini, Sprecher des Experiments Borexino, sagte: "Zum Glück ist die Geschichte jetzt zu Ende."

+++ Atomkraftwerke im Visier +++

Im Gegensatz zu den masselosen Lichtteilchen haben Neutrinos eine kleine Masse, deshalb müssten sie eigentlich minimal langsamer sein. Aber genau wird sich das wohl nie sagen lassen. Dass die Partikel genauso schnell sein könnten wie Lichtteilchen, war schon länger klar: 1987 beobachteten Physiker eine etwa 160 000 Lichtjahre von der Erde entfernte Sternenexplosion. Dabei herausgeschleuderte Neutrinos kamen fast zeitgleich mit Photonen aus der Explosion auf der Erde an.

Die Partikel lassen sich aber auch künstlich herstellen, mithilfe von Teilchenbeschleunigern. Eben solche Partikel studieren Physiker bei den Experimenten im Gran Sasso. Dabei wollen sie hauptsächlich beobachten, wie sich Neutrinos während ihres Flugs verwandeln. Denn diese sogenannte Neutrino-Oszillation könnte helfen zu verstehen, wie sich in der Geburtsstunde des Universums, kurz nach dem Urknall, bestimmte Teilchen in andere verwandelten - und warum dabei Materie übrig blieb, während die Antimaterie scheinbar verschwand.

Bei Messungen im Sommer 2011 fiel den Opera-Physikern der vermeintliche Temporekord auf; kurz darauf gingen sie an die Öffentlichkeit. Zu früh, fanden einige Mitglieder des Teams, unter ihnen Caren Hagner. Sie unterschrieb die ersten Ergebnisse nicht. Eine präzisere Messung im November 2011 schien das Resultat zu bestätigen. Nun unterschrieb auch Hagner. Ihre Zweifel aber blieben.

Die abschließenden Tempomessungen haben keine praktischen Konsequenzen. Die Lichtgeschwindigkeit - rund 300 000 Kilometer pro Sekunde - ist weiterhin der Referenzwert für Anwendungen wie Satellitennavigationssysteme, bei denen gemessen wird, wie schnell Signale ankommen. Es gibt allerdings erste Überlegungen, die Eigenschaft von Neutrinos, Materie unbeeinflusst zu durchdringen, zu nutzen.

Im Gran Sasso konzentrieren sich die Physiker mittlerweile wieder auf den eigentlichen Zweck ihrer Experimente: die Beobachtung der Neutrino-Oszillation. Was aber hat das mit dem Urknall zu tun? Das Universum, so wie wir es beobachten, besteht aus Materie, also aus Atomen, die sich nach dem Standardmodell der Teilchenphysik im Wesentlichen aus drei Sorten von Teilchen zusammensetzen. Dazu gehören etwa die Elektronen, Quarks und Photonen. Zu jedem dieser Teilchen gibt es ein Antiteilchen, das über die gleiche Masse, aber eine entgegengesetzte elektrische Ladung verfügt (nur die neutralen Neutrinos haben neutrale Antiteilchen). Auf der Erde existiert Antimaterie bereits: Antiteilchen des Elektrons, die Positronen, lassen sich künstlich erzeugen und werden in der medizinischen Diagnostik genutzt. Forschern am Cern in Genf gelang es mehrfach, Anti-Wasserstoffkerne herzustellen und zu fixieren - wenn auch nur für maximal 17 Minuten.

Nur: Wo ist die Antimaterie im Universum geblieben? Der Urknalltheorie zufolge entstanden vor 13,7 Milliarden Jahren zunächst Materie und Antimaterie in gleichen Mengen. Da sich diese beiden aber prinzipiell gegenseitig auslöschen, sollte nach dem Urknall nur Licht übrig geblieben sein. Tatsächlich existiert Materie, etwa in Form der Planeten. Allerdings lassen sich mit ihr nur vier Prozent des Universums erklären. Eine These ist, dass im Kosmos bisher unentdeckte Bereiche aus Antimaterie existieren könnten. Nach Hinweisen darauf sucht etwa das Alpha-Magnet-Spektrometer, ein Instrument auf der Internationalen Raumstation. Eine andere These geht davon aus, dass sich Materie und Antimaterie nach dem Urknall minimal unterschiedlich verhielten, sodass etwas Materie übrig blieb. Lange nahmen Physiker an, dass Antiteilchen sich genauso verhalten wie ihre Gegenparts. Doch 1972 wiesen japanische Physiker eine Abweichung zwischen schweren Quarks und ihren Antiteilchen nach. Zu einer solchen sogenannten CP-Verletzung könnte es nach dem Urknall gekommen sein.

Deshalb suchen Forscher auch im restlichen Standardmodell nach Abweichungen zwischen Teilchen und Antiteilchen. Hier kommen die Neutrinos ins Spiel. Es gibt drei Arten: Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos. 1998 gab es erstmals indirekte Hinweise, dass sich Myon-Neutrinos in Tau-Neutrinos verwandeln können. 2010 wiesen die Forscher von Opera dies erstmals nach: Am Cern in Genf wurden nur Myon-Neutrinos losgeschickt - 732 Kilometer weiter im Gran Sasso maß der Detektor Signale, die auf ein Tau-Neutrino hinwiesen. Auf der Konferenz in Kyoto präsentierten die Forscher jetzt ein zweites derartiges Ereignis. In zwei weiteren Experimenten - Double Chooz in Frankreich und Daya Bay in China - konnten Forscher vor Kurzem nachweisen, dass sich Antineutrinos, die in Kernkraftwerken entstehen, ebenfalls verwandeln können - in eine andere Antineutrinoart. Falls zukünftige Experimente ergeben, dass sich Neutrinos häufiger umwandeln als Antineutrinos, ließe sich damit womöglich rekonstruieren, was nach dem Urknall geschah. Doch noch ist eben erst teilweise klar, was Neutrinos alles können. Fest steht jetzt immerhin, was diese Teilchen definitiv nicht können: schneller fliegen als Licht.