Bei der 3000 Jahre alten Tontafel sprechen Archäologen vom bedeutendsten Fund seit den Schriftrollen von Qumran

Münster. Ein deutscher Wissenschaftler hat den vermutlich ältesten hebräischen Text außerhalb der Bibel neu entziffert. "Bei der antiken Inschrift auf einer 3000 Jahre alten Tontafel handelt es sich um Sozialgesetze, die Ausländer, Witwen und Waisen im Alten Israel schützen sollten", berichtete der evangelische Theologe Prof. Reinhard Achenbach vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster am Dienstag. "Unser heutiger Grundsatz, Ausländern vor Gericht Rechtsschutz zu gewähren und sozial Benachteiligte im Sozialstaat zu schützen, reicht also weit in die altorientalische Zeit zurück."

Archäologen der Hebräischen Universität Jerusalem hatten die Inschrift am 8. Juli 2008 bei Grabungen in Khirbet Qeiyafa, 25 Kilometer südwestlich von Jerusalem, entdeckt. Yosef Garfinkel von der Universität und Saar Ganor von der Antiquitätenbehörde Israels leiteten die Ausgrabungen, die die Inschrift in einer Kammer eines Gebäudes in unmittelbarer Nähe des westlichen Stadttors zutage förderten. Die Fachwelt feierte den Fund als Sensation. Wissenschaftler in Israel sprachen damals vom bedeutendsten Fund seit der Entdeckung der legendären Schriftrollen von Qumran im Jahr 1947. Seitdem waren Experten damit befasst, den fünfzeiligen Text zu entziffern und seinen Inhalt zu deuten.

Zehn Wissenschaftler haben bisher ihre Interpretationen abgegeben. "Es existiert ein wissenschaftlicher Streit darüber, wie weit man die Schrift noch lesen kann", sagt Achenbach. Die Begriffe "Schaffe Recht", "Witwe", "Waise" und "König" seien recht klar zu entziffern. "Dann aber spalten sich die Deutungen in die Lager der Minimalisten und der Maximalisten", so Achenbach.

Der Alttestamentler, der seine Ergebnisse in der französischen Fachzeitschrift "Semitica" veröffentlicht hat, sieht sich selbst als Maximalisten, neben Kollegen aus Holland, Israel und Frankreich. "Wir haben die Entzifferungsvorschläge verschiedener Wissenschaftler miteinander verglichen und konnten so den Text nahezu vollständig rekonstruieren. Für fast alle Formulierungen gibt es enge Parallelen in der Hebräischen Bibel, und zwar sowohl in den Rechtstexten der Tora als auch in den Weisheitslehren und in den Worten der Propheten, welche die Unterdrückung sozial benachteiligter Menschen kritisieren", sagt Achenbach.

Die Inschrift, die von links nach rechts zu lesen ist, entstand rund 1000 Jahre vor Christus. "Die aus dem Kanaanäischen übernommenen Schriftzeichen hat wohl ein Schüler auf das Ostrakon, eine Tonscherbe, geschrieben", erläuterte Achenbach. "Es handelt sich um eine Schreibübung. Das Kopieren von Gesetzestexten diente der Ausbildung der königlichen Beamten, die die Rechtsverhandlungen in den Ortschaften überwachen sollten."

Die zweite und dritte Zeile auf der Tonscherbe lauteten "Schaffe Recht dem Sklaven und der Witwe, schaffe Recht der Waisen und dem Fremden! Verteidige das Recht des Unmündigen, verteidige das Recht des Armen!", übersetzte Achenbach. "Somit gehörten Schutzrechte für benachteiligte Menschen zu den ältesten Rechten Israels." Dabei knüpften die Israeliten an ältere kanaanäische und ägyptische Traditionen an, wie der Experte unterstreicht.

Der Münsteraner Wissenschaftler, der sich mit Schutzgesetzen im Alten Israel befasst, rechnet damit, dass die Meinungsverschiedenheiten über die Textinterpretation anhalten werden. "Ich stelle meine Lesart zur Diskussion", so Achenbach. Für ihn sei es jedoch eine Sensation, einen außerbiblischen Text zu haben, der belege, dass die biblischen Texte auf eine ältere Tradition zurückgehen.

Achenbach war vor einem Jahr von einem israelischen Kollegen angeschrieben worden, wie er die Schrift interpretieren würde. Eine spezielle Lasertechnik ermöglichte damals neue Fotografien der Tonscherbe, die die Schrift deutlicher hervorhoben.