Forscher fanden heraus, dass Vögel in bewohnter Umgebung früher brüten und Stress besser vertragen als ihre Artgenossen im Wald

Radolfzell. Es zwitschert in allen Tonlagen. Viele Vogelarten sind jetzt mitten in der Brutsaison. Wie weit sie mit der Familienplanung schon vorangekommen sind, hängt nicht nur von der Art, sondern auch von der Wohnlage ab. Stadtamseln etwa beginnen im Frühling früher zu singen und zu brüten als ihre Kollegen im Wald. Was die gefiederten Städter von ihren Artgenossen auf dem Land unterscheidet, untersuchen Jesko Partecke und seine Kollegen vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell am Bodensee.

"Für den frühen Bruttermin kommen unterschiedliche Ursachen infrage", sagt der Forscher. Zum einen neigen vor allem männliche Stadtamseln dazu, im Winter nicht mehr nach Süden zu fliegen. Während die Zugvögel unter ihren Artgenossen noch auf dem Heimweg sind, können sie schon ihre Reviere besetzen. Auch das bessere Futterangebot, das wärmere Mikroklima und die vielen Lichter der Stadt könnten den frühen Bruttermin begünstigen. "Gerade Kunstlicht kann den Tages- und Jahresrhythmus von Vögeln ziemlich durcheinanderbringen", erläutert Jesko Partecke.

Allerdings scheint der zeitige Brutbeginn nicht nur mit äußeren Einflüssen zusammenzuhängen. Die Max-Planck-Forscher haben im Wald und in Städten geschlüpfte Amseln im Alter von ein paar Tagen aus ihren Nestern genommen und dann gemeinsam unter gleichen Bedingungen von Hand aufgezogen. "Bei diesen Vögeln war der Unterschied zwar nicht so groß wie bei ihren Artgenossen im Freiland", berichtet Partecke. Doch wieder hatten die Stadtkinder beim Einläuten der Paarungszeit den Schnabel vorn. Das spricht dafür, dass sie einen angeborenen Hang zum frühen Brüten haben, der von Umwelteinflüssen verstärkt wird.

Auch anderen Unterschieden wollen die Forscher mithilfe ihrer von Hand aufgezogenen Tiere auf die Spur kommen. Heutige Stadtamseln sind jeden Tag mit Situationen konfrontiert, die ihre menschenscheuen Ahnen vermutlich an den Rand des Nervenzusammenbruchs getrieben hätten. "Wir haben daher vermutet, dass sie mit Stress anders umgehen als ihre im Wald lebenden Artgenossen", erläutert Jesko Partecke. Deswegen mussten sich die Versuchsamseln einem Stresstest unterziehen. Dazu haben die Biologen jedem Vogel Blut abgenommen, um seinen normalen Hormonspiegel zu ermitteln. Dann haben sie das Tier für eine Stunde gefangen gehalten und in regelmäßigen Abständen weitere Blutproben entnommen. So ließ sich seine Reaktion auf diese zwar harmlose, aber sicher nicht stressfreie Situation analysieren.

Bei allen Vögeln stieg die Konzentration des Stresshormons Kortikosteron im Blut zunächst rapide an, nahm aber nach einiger Zeit wieder ab. Während sich manche Amseln schon nach einer halben Stunde wieder einigermaßen beruhigt hatten, schossen bei anderen auch nach einer Stunde noch große Mengen Kortikosteron durch die Adern. Trotz aller individuellen Unterschiede zeichnete sich ab: "Die Stadtamseln waren im Durchschnitt einfach cooler", sagt der Biologe. Ihre Hormonkonzentrationen stiegen nicht so stark an wie die ihrer Waldkollegen und sanken auch schneller wieder ab.

Das könnte daran liegen, dass die Mutter die Stadtkinder auf die Herausforderungen ihres Lebensraumes vorbereitet. Bekannt ist, dass Vogelweibchen im Eidotter einen Hormoncocktail deponieren, der je nach Umweltbedingungen unterschiedlich zusammengesetzt ist. Diese Hormone beeinflussen die Entwicklung des Embryos. Der Vogelnachwuchs bekommt dadurch Informationen über seinen Lebensraum und kann im Rahmen seiner genetischen Möglichkeiten Eigenschaften erwerben, die in der jeweiligen Situation besonders günstig sind. "Wir können bisher nicht ausschließen, dass auch die erhöhte Stresstoleranz der Stadtvögel mit solchen Umwelteinflüssen zusammenhängt", sagt Jesko Partecke.

Allerdings vermuten er und seine Kollegen eher, dass es sich wie bei den Brutvorlieben zumindest teilweise um genetische Unterschiede handelt. Wie die zustande kommen könnten, lässt sich mithilfe der Evolutionstheorie erklären: Wenn die cooleren Tiere in der Stadt länger leben und mehr Nachwuchs zeugen als die Nervenbündel, geben sie ihre Stressresistenz häufiger an die nächste Generation weiter. Mit der Zeit breitet sich diese günstige Eigenschaft so immer weiter aus.

Die Forscher vermuten, dass sich in der Stadt bestimmte Vogelpersönlichkeiten durchgesetzt haben. "Auch unter Amseln gibt es aggressive und zurückhaltende, neugierige und ängstliche Exemplare", sagt der Forscher. Um herauszufinden, welcher Typ in der Stadt besonders gut zurechtkommt, analysieren die Forscher derzeit, wie sich die unter gleichen Bedingungen aufgezogenen Vögel aus Stadt- und Waldnestern in verschiedenen Situationen verhalten. Mal werden sie mit unbekannten Gegenständen wie Schneemännern konfrontiert, um ihre Neugier zu testen. Oder die Forscher setzen ihnen ausgestopfte Artgenossen oder Eichhörnchen vor, um ihr Sozialverhalten und die Reaktion auf Feinde zu beobachten. "Wir sind gespannt, ob das Stadtleben eher die neugierigen Draufgänger oder vielleicht ganz andere Persönlichkeiten fördert", sagt Partecke.