Die Zuckerart, die aus der Stevia-Pflanze gewonnen wird, hat keine Kalorien. Die EU-Lebensmittelbehörde gibt grünes Licht - das große Geschäft?

Hamburg. Es begann mit einer kleinen Dose und einem weißen, sehr feinen Pulver darin. Eine Bekannte hatte es mitgebracht: Ein natürlicher Zuckerersatz sei der Inhalt, nur 300-mal süßer. Und völlig ohne Kalorien oder fiese Substanzen, die unsere Zähne angreifen könnten. Stevia, so heiße der Stoff, sagte sie und sprach von einer neuen, revolutionären Bio-Alternative. Der Beipackzettel dazu klang geheimnisvoll: Gewonnen wird dieses Stevia aus einer alten südamerikanischen Pflanze namens Stevia rebaudiana, liest man dort. Auch Süß- oder Honigkraut wird es genannt. Und tatsächlich, der Name gleicht dem Geschmack: Nur Spuren am Finger, vorsichtig an die Lippen geführt, entfalten augenblicklich im Mund eine unglaubliche Süße. Eine Messerspitze reicht aus, um eine ganze Kanne Tee in nur scheinbares Zuckerwasser zu verwandeln. Was mag das für ein Kraut sein, das schon vor Hunderten von Jahren den Indianern in Paraguay das Leben versüßt haben soll - und von dem die meisten Normalverbraucher bisher kaum etwas gehört haben dürften?

Erste Recherchen im Internet stoßen auf einen schon lang andauernden Kampf der modernen Stevia-Krieger um Anerkennung: In der EU fällt Stevia nämlich unter die Novel-Food-Verordnung und ist als Lebensmittelzusatz noch nicht zugelassen. Anders als etwa in der Schweiz, in den USA und in Asien. Die europäische Zucker-Lobby blockiere die Zulassung, liest man dann auf vielen Seiten. Homepages wie "Free Stevia" fordern massiv die Zulassung des Wunderkrauts. Esoterik-Anhänger preisen ihre gesundheitlichen Vorteile. Aber auch die renommierte Uni Hohenheim forscht bereits mit Stevia-Pflanzen. Noch in diesem Jahr, so vermuten die Wissenschaftler, dürfte auch die EU-Kommission Stevia zulassen, nachdem die EU-Lebensmittelbehörde gerade grünes Licht gegeben und den "Wundersüßstoff" für unbedenklich erklärt hat. Das süße Kraut der Indianer scheint tatsächlich vor einer neuen Karriere zu stehen. Kuchen- und Schokoladengenuss ohne Reue, ohne Zahnarzt-Subvention und ohne künstliche Ersatzstoffe - das klingt verheißungsvoll und macht Appetit auf mehr.

Die weitere Spurensuche braucht aber überraschenderweise gar nicht bis tief in den südamerikanischen Dschungel zu führen, schon an der A 7 im Westen Hamburgs taucht Stevia auf: bei Gärtnermeister Peter Klock. Die Regale in seinem Büro in Bahrenfeld sind bis an die Decke gestapelt voll mit Büchern, der Schreibtisch ist beladen mit Papieren und Zeitschriften: Klock zieht ein Buch über "Ginseng - das Geheimnis des grünen Goldes" hervor. Er hat es selbst geschrieben, genauso wie ein Buch über Zitrusfrüchte oder den australischen Teebaum. Auf seinem Betriebshof vor den Toren Hamburgs in Witzeeze am Elbe-Lübeck-Kanal hat er sich auf den Anbau von südlichen Pflanzen im rauen Norden spezialisiert. Südflora heißt sein Betrieb.

In einem der Gewächshäuser baut Klock auch das recht schmucklose grüne Stevia-Kraut an. Wegen der fehlenden EU-Zulassung darf er es aber nicht als Nahrungsmittel bewerben, sagt Klock. Der Trick ist, dass er Stevia daher "ausschließlich als Zierpflanze" anbietet. Er geht in den hinteren Teil seines Büros und kommt mit einem grünen, etwa 50 Zentimeter hohen Gewächs im Topf zurück. Die Blätter sehen leicht gezackt aus und wachsen an grünen Stängeln, die Pflanze wirkt wie eine Kreuzung aus Basilikum und Brennnesseln. Die Blätter lassen sich leicht abzupfen und entfalten beim Kauen dieses Mal eine angenehme milde Süße - nicht ganz so intensiv wie bei dem Pulver, aber immerhin. "Es gibt Familien, die haben eine Pflanze in der Küche stehen - das reicht für den Bedarf", sagt Klock. Als Zierpflanze natürlich. Klock grinst. Man könne die Blätter auch einkochen, um einen Sud zu gewinnen; oder im Backofen trocknen, um so ein Süßmittel zu erhalten, weiß er.

Das alles hört sich allerdings eher nach Hausmittel als nach gefährlichem Zusatz an. Dass eine angeblich mächtige Zuckerindustrie die Zulassung behindert, wie viele Verschwörungstheorien im Internet behaupten, glaubt Klock nicht. Die großen Unternehmen dürften selbst ein starkes Interesse an einem neuen Zuckerersatz haben - um damit bei kritischen Verbrauchern anzukommen, vermutet er.

Und tatsächlich gibt es an der Zucker-Stevia-Front mittlerweile einen Paradigmenwechsel, sagt Udo Kienle. Der Mann mit dem schwäbischen Akzent forscht an den Uni Hohenheim über Stevia, seit ein Bekannter ihm vor zwölf Jahren einige Blätter davon aus Südamerika mitgebracht hatte. In Südeuropa könnte der Anbau dieser Pflanze vielen kleinen Landbetrieben eine Alternative bieten, wenn demnächst die Tabak-Subventionierung durch die EU beendet werde, sagt Kienle. "Der natürliche Zuckerersatzstoff ist nahezu frei von Kalorien", bestätigt er.

Doch inzwischen ist die Stevia-Perspektive aus der reinen Kleinbauern-Ebene (Kienle) längst herausgewachsen: Seit Kurzem hat auch die Lebensmittelindustrie Interesse an dem Stoff. Und tatsächlich ist die Pflanze oder besser sind ihre süßen Inhaltsstoffe nicht mehr allein Sache von norddeutschen Gartenbaubetrieben oder südamerikanischen Indianern. Die verschworene Stevia-Gemeinde muss staunend beobachten, dass sich das Blatt gewendet hat.

Es geht jetzt nicht mehr um Bio, sondern um Business.

Und zwar das ganz große, das sich durch dieses Kraut in naher Zukunft anbahnen könnte: Cola-Produzenten und ihre Zulieferer testen bereits mit Stevia-Wirkstoffen, um ihr Süßgebräu aufzupeppen. Es gibt bereits Liefervereinbarungen und ein erstes Softdrink-Produkt in den USA: "Green Sprite", so heißt es. Für Limos bietet sich Steviasüße eben geradezu an, für Gebäck auch, für Fast Food, für Fertigprodukte - Zucker ist heute weit mehr als nur die sichtbaren Würfelstücke, die mancher in seinem Kaffee braucht. Als Geschmacksverstärker ist er in vielen Produkten versteckt.

Das süße Leben der modernen westlichen Gesellschaft bietet deshalb ein gigantisches Geschäft: 40 Kilogramm Zucker - mehr als doppelt so viel wie in Afrika - verbraucht jeder der rund 500 Millionen EU-Bürger durchschnittlich pro Jahr. Aber immer häufiger mit schlechtem Gewissen: Das legendäre Foto der kleinen Jungs, die mit Baseball-Kappe und Michelin-Männchen-Figur in einem Hamburger-Laden aus riesigen Bechern Cola trinken und Burger mampfen, hat sich in die Gehirne gebrannt. Zucker sind Kalorien, die sich auf der Hüfte niederlassen - das ist die Botschaft solcher Bilder und etlicher Zeitschriftenartikel. Und doch kann man von der süßen Sünde nicht lassen. Ein natürlicher Zuckerersatz verspricht deshalb dicke Renditen, wenn Zucker als Kalorienwucht und Zähnezerstörer immer mehr verteufelt wird. Ein neuer Stoff, noch dazu von der Aura indianischer Weisheit umgeben, erscheint da als die perfekte Alternative. Und alles natürlich natürlich. Viel besser jedenfalls als synthetische Süßstoffe, die es wohl nie in die höchste Bio-Liga schaffen werden.

Allerdings: Die Lebensmittelindustrie gewinnt einzelne Wirkstoffe aus der Stevia-Pflanze auch industriell - und meldet diese dann oft als Patent an. Vorstellbar, dass diese Produkte zugelassen werden in der EU, die Pflanze für den Hausgebrauch aber nicht, argwöhnte kürzlich "Spiegel Online".

Doch schon jetzt gelangen auch so Stevia-Produkte massenhaft auf den Markt. Im Internet oder im Bioladen werden sie angeboten. Meist in konzentrierter Form als Pulver oder auch als Tabletten: "Aber nur als kosmetische Produkte oder Badezusatz", heißt es im Reformhaus um die Ecke auf Nachfrage verschwörerisch - so als gehöre man einem verbotenen Geheimklub der Stevia-Jünger an. 12,80 Euro kosten da 100 Gramm. Und wieder süßt nur eine Messerspitze davon eine ganze Kanne Tee. Wenn man zu viel nimmt, überlagert ein metallisch-bitterer Geschmack die Süße.

Doch das Pulver versüßt auch Bilanzen - in China, wo es am meisten produziert wird, kostet es Bruchteile, weiß Stevia-Forscher Kienle und spricht von manchmal "zweifelhaften Verfahren" bei nicht eindeutigen Produkten aus solchen Regionen.

Und damit ist die Frage erreicht, warum die EU bisher so mit der Zulassung gehadert hat? Eine Antwort darauf könnte man im Zusatzstoff-Museum in Hamburg finden. Seit gut zwei Jahren gibt es diese Einrichtung mit dem etwas sperrigen Namen schon auf dem Großmarktgelände in einem früheren Edeka-Gebäude. Etwas schwer zu finden ist das Haus, heißt es sogar in der Internet-Selbstbeschreibung. Nur durch den Eingang Ost gelangt man auf das Gelände. Schwere Lkw kurven dort um die Kühlhäuser, Gabelstapler surren mit Paletten übers Gelände. Innen fühlt sich der Besucher an einen Drogeriemarkt erinnert: Ganze Reihen mit kleinen Behältern und bunten Deckeln stehen dort in den Regalen. Man lernt, dass Himbeergeschmack mit Zedernholzspänen erzeugt wird oder Obst mit Schellack überzogen ist, um es gut aussehen zu lassen. Der ganze Chemiebaukasten eben, mit dem heute so bei Lebensmitteln gearbeitet wird. "Wer das Museum besucht, schmeißt hinterher die Hälfte seines Kühlschrankinhalts weg", sagt Hans Joachim Conrad, Vorsitzender der Großmarkt-Genossenschaft, die das Museum unterstützt.

Auch zum Thema Süßstoffe und Zuckerersatz wird man hier fündig. Künstliche Ersatzstoffe wie etwa Sacharin sind dort beschrieben: "Wird auch als Appetit-Stimulans in der Ferkelmast eingesetzt", liest man und überlegt sich den Genuss dann doch zweimal. Auch über Stevia findet sich eine Erläuterung, die ein wenig Zweifel weckt: In der traditionellen Volksmedizin in Südamerika seien die Stevia-Blätter auch zur natürlichen Empfängnisverhütung eingesetzt worden, heißt es dort. Hauptbestandteil ist das Steviosid, das im Körper zu Steviol aufgespalten wird, das wiederum zu dem "enterohepatischen Kreislauf" gehöre und vom Körper nicht immer vollständig ausgeschieden werde. Stoffe dieses Kreislaufs müssten mit gewisser Skepsis gesehen werden, liest der Museumsbesucher. Das gelte vor allem, wenn es sich um "schwer definierbare Substanzgemische" handele. Wissenschaftlicher Berater des Hamburger Museums ist der streitbare Lebensmittelchemiker und Ernährungsexperte Udo Pollmer. Er weist genüsslich darauf hin, dass die einstige Indianer-Pflanze für die industrielle Süßmittelgewinnung auch als Sprosskultur in einer Nährlösung gezogen wird: Und hinein komme reichlich Zucker. "Das traditionelle Süßungsmittel der indigenen Völker Mitteleuropas", wie Pollmer schreibt.

Doch was tun, wenn weißes Pulver aus dem Internet zu bedenklich, das Einkochen einer eigenen Pflanze zu umständlich ist und man künstliche Süßstoffe lieber den Ferkelzüchtern überlassen möchte? Vielleicht abwarten, bis die EU-Kommission klar definierte Steviaprodukte freigibt. Und so lange wieder Zucker nehmen. In Maßen natürlich. Süße ohne Sünde - ist eben kein Zuckerschlecken. So bitter das ist.