Der deutsche Arzt Rolf Theiß untersucht seit 20 Jahren mysteriöse Heilungen im französischen Wallfahrtsort. Die wenigsten Fälle seien unerklärlich, sagt der 66-Jährige.

Saarburg. Der Wallfahrtsort Lourdes zieht jedes Jahr Millionen Pilger an. Darunter auch Zigtausende Kranke, die auf Genesung hoffen. Im medizinischen Büro des südfranzösischen Städtchens melden sich etwa 30 bis 40 Menschen im Jahr, die nach einem Besuch in Lourdes plötzlich wieder gesund geworden sein wollen, sagt Arzt Rolf Theiß im rheinland-pfälzischen Saarburg. Der Chirurg gehört seit 20 Jahren als einziges deutsches Mitglied dem internationalen medizinischen Komitee an, das in Lourdes ungewöhnliche Heilungen aus wissenschaftlicher Sicht prüft. „Die wenigsten Fälle aber sind wirklich unerklärlich“, sagt er. Und noch weniger gelten später als „Wunder“.

2012 etwa meldeten sich Pilger mit angeblichen Heilungserfolgen etwa bei Nierenkrebs, Hepatitis C, Lähmungen und Epilepsie. „Es geht immer querbeet“, sagt der 66-Jährige. Auf dem Tisch der 20-köpfigen Expertenkommission aber landen im Jahr gerade mal zwei oder drei Krankenakten, die die Mediziner aus Europa und den USA dann genau unter die Lupe nehmen. „Viele Fälle scheiden von vornherein aus“, sagt Theiß, der Französisch fast so gut wie Deutsch spricht. Dazu gehörten zum Beispiel psychosomatische Krankheiten. Oder vorgetäuschte Heilungen. Hauptaufgabe der Professoren und Ärzte sei die Klärung der Krankengeschichte: Um was für eine Erkrankung handelte es sich genau?

Anders als vor 50 Jahren kämen heute auch viele vorbehandelte Patienten nach Lourdes. „Da müssen wir genau prüfen, ob die Heilung nicht eine Folge der Behandlung sein könnte“, sagt Theiß, der vor seinem Umzug nach Saarburg im Jahr 1997 Chefarzt in einem Dortmunder Krankenhaus war. Wichtig sei auch zu klären, ob eine Krankheit dauerhaft verschwinde. Bis ein Fall als unerklärlich eingestuft werde, werde er manchmal über Jahre hinweg der Prüfung unterzogen.

Ein Wunder ist es dann aber noch lange nicht. Denn für die Anerkennung einer Heilung als Wunder ist die katholische Kirche zuständig – und zwar konkret der Ortsbischof jener Region, aus der der Geheilte stammt. Von den bislang rund 7000 Heilungen, die in Lourdes seit 1858 verzeichnet wurden, sind nach Angaben der Wallfahrtsstätte in Lourdes 68 als Wunder anerkannt worden. Zuletzt war es im Jahr 2012 der Fall der italienischen Ordensschwester Luigina Traverso, 79, die an einer Beinlähmung litt und in der Mariengrotte geheilt wurde.

Theiß kennt die Akte bis ins letzte Detail. „Sie hat uns Jahre beschäftigt.“ Denn Traversos Heilung geht bereits auf das Jahr 1965 zurück. Damals war sie mit ihrem gelähmten Bein auf einer Trage in den Gottesdienst gebracht worden – und konnte plötzlich den Fuß wieder bewegen. „Sie ist heute noch gesund“, sagt Theiß. Eine medizinische Erklärung für die Heilung gebe es nach eingehender Prüfung „nach dem heutigen Stand der Wissenschaft“ nicht.

Rund sechs Millionen Pilger im Jahr

Die Wallfahrtszeit in Lourdes geht von April bis Oktober. Mit rund sechs Millionen Pilgern im Jahr gilt die Stadt als einer der meistbesuchten Wallfahrtsorte der Welt. Die Tradition geht auf eine Serie von 18 Marienerscheinungen im Jahr 1858 zurück, heißt es im Wallfahrtsbüro.

Damals soll der 14 Jahre alte Bernadette Soubirous beim Holzsammeln nahe der Grotte von Massabielle wiederholt die Mutter Gottes erschienen sein. Sie schilderte sie als weiß gekleidete Dame mit blauem Gürtel. Bei einer dieser Visionen entdeckte Bernadette eine Quelle. Das Wasser gilt als heilkräftig. Zahlreiche Alte und Kranke reisen nach Lourdes, um in diesem Wasser ein Bad zu nehmen, in der Hoffnung auf Heilung oder Linderung ihrer Beschwerden. Bei chemischen Untersuchungen konnten allerdings keine ungewöhnlichen Mineralstoffe im Wasser entdeckt werden.

Die angeblichen Wunderheilungen sind auch Gegenstand kritischer Untersuchungen gewesen. 1984 veröffentlichte der Allgemeinmediziner St. John Dowling die Untersuchung des Falls einer 26 Jahre alten Patientin, die sich eine Lebererkrankung zugezogen hatte. 1954 fühlte sie sich geheilt, 1963 wurde die Heilung von einer kirchlich-ärztlichen Kommission zwar anerkannt, 1970 starb sie dennoch daran, weil die Krankheit erneut ausgebrochen war.

„Wir Mediziner sprechen eigentlich nicht von Wundern“, sagt Theiß. Er ist der Überzeugung, dass es Spontanheilungen auch an anderen Orten der Welt geben kann. „Es gibt überall Dinge, die man nicht erklären kann“, meint der gebürtige Rheinländer, der diese Aufgabe in dem Komitee im Jahr 1993 von seinem Vater übernommen hatte. Das Besondere in Lourdes sei, dass hier viele Kranke an einem spirituellen Ort zusammenkämen. Ob er einem Kranken, der gelähmt sei oder an Multipler Sklerose leide, zu einer Wallfahrt nach Lourdes raten würde? „Nicht zur Therapie“, sagt Theiß. „Wenn ich aber merke, dass er gerne dorthin möchte, dann unterstütze ich ihn.“