Mit so vielen Besuchern hatte ich bei einem Gottesdienst nicht gerechnet. Der Konferenzsaal an Bord des Kreuzfahrtschiffes platzte aus allen Nähten, während das Schiff gegen die Wellen des Mittelmeeres kämpfte. Eigentlich wollten wir an diesem Tag in Marseille anlegen. Doch stürmische Böen der Windstärke neun bis zehn verhinderten das Einlaufen. Die geplanten Landausflüge fielen deshalb ins Wasser. Also strömten die Passagiere zum ökumenischen Gottesdienst. Vielleicht auch, weil Seefahrt beten lehrt, je höher die Wellen werden.

Seit rund vier Jahren bin ich zeitweise als ehrenamtlicher Kreuzfahrtseelsorger mit Sondergenehmigung der evangelisch-lutherischen Nordkirche auf den Weltmeeren unterwegs. Damit stehe ich in einer Tradition, die auf die große Auswandererwelle im 19. Jahrhundert zurückgeht. Damals begleiteten sogenannte Bordseelsorger die Transatlantikdampfer von Hamburg oder Bremerhaven in die Neue Welt. Bis heute entsenden die Bordseelsorge im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und das Auslandssekretariat der Deutschen Bischofskonferenz Geistliche auf Kreuzfahrtschiffe.

Ein Bordseelsorger muss vor allem zuhören und mit-schweigen können

Wo andere Menschen erholsame Ferien auf See verbringen wollen, komme ich zur Arbeit an Bord. Im Koffer habe ich natürlich immer eine Bibel, die Predigtmanuskripte und einen USB-Stick mit PowerPoint-Präsentationen für Vorträge über das „Imperium der Päpste“ oder Weihnachtsbräuche in aller Welt. Mehr aber kann ich vorher nicht planen.

Denn jede Reise ist voller Überraschungen. Weil ich immer wieder neuen Menschen mit ihren Lebensgeschichten und Schicksalen begegne. Für sie bin ich da. Die Gespräche können sich spontan an Deck ergeben, an der Bar oder nach dem Gottesdienst. Oder ich werde mitten in der Nacht von einem Gast darum gebeten, ihm einfach nur zuzuhören. Es gibt eben auch jene Urlauber, die keinen Sonnenschein im Gepäck haben und die dankbar sind für Gespräche, Gebete und einen Gottesdienst auf hoher See. Insbesondere die katholischen Crewmitglieder von den Philippinen freuen sich, wenn sie einem Mann des Glaubens begegnen und mit ihm gemeinsam Gottesdienst feiern können.

Aufmerksames, empathisches Zuhören – das ist wohl die wichtigste Eigenschaft, die ein Urlaubsseelsorger haben sollte. Es dauert nicht lange, da thematisieren die Gäste ihre Lebenskrisen, Sinnfragen, Partnerschafts- und Erziehungsprobleme. Manchmal bleibt mir nur ein Mit-Schweigen, nachdem die Geschichte über den Tod eines neugeborenen Kindes, den Unfall des Sohnes oder die erlebte Gewalt erzählt wurde. Immer wieder berichten Passagiere zudem über ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit der evangelischen und katholischen Kirche.

Gerade auf dem Meer – wie etwa bei einer Transatlantikpassage – kann die Weite des Ozeans tiefgründige Fragen an das Leben und an Gott auslösen. Ich verstehe meine Rolle dann als Fachmann für das Religiöse, der die Suche nach dem Sinn des Lebens aus christlicher Perspektive deutet. Etliche Gäste sehnen sich auf See nach einem inneren Zur-Ruhe-Kommen. Deshalb biete ich „Meditationen auf dem Meer“ und Entspannungsübungen an.

Höhepunkte sind für mich die ökumenischen Gottesdienste, die zum Beispiel an Weihnachten auf einem Kreuzfahrt-Schiff von rund 500 Passagieren besucht werden. Zur Christmette kommen die Gäste sogar mit Cocktailgläsern ins Theater. Danach sagte einmal ein älterer Herr zu mir: „Heute habe ich zum ersten Mal meine Frau in einem Gottesdienst geküsst.“

Weil auf einem Schiff alles schön geordnet verläuft, werden Bordseelsorger in ein bestimmtes Schema gesteckt. Die Reedereien führen uns als Künstler, Entertainer und „Wohlfühloffiziere“. Im aktuellen Tagesprogramm und schon vor der Reise wird darauf hingewiesen, dass ein Geistlicher die Fahrt begleitet. Da kann doch nichts mehr schiefgehen, oder?