Die Caritas stellt gemeinsam mit dem Studiengang Soziale Arbeit auf dem Campus der Hochschule für Anwandte Wissenschaften Notunterkünfte für obdachlose Frauen bereit. Dort engagieren sich vor allem Studenten dieses Studiengangs. Sie begleiten die Wohnungslosen, geben Halt und Trost

An manchen Tagen kommen sie zu ihr, um zu schweigen. Manchmal, um zu lachen. Oder zu weinen. Manchmal brauchen sie auch einen Rat. Dafür ist Katharina Gomm da. Sie ist Studentin im siebten Semester und seit drei Jahren für die Frauen da, die auf der Straße leben und für ein paar Monate im Containerprojekt für obdachlose Frauen auf dem Gelände der Hochschule für Angewandte Wissenschaften unterkommen.

Katharina Gomm hat an diesem Morgen Dienst. Die Studentin sitzt in einem der Wohncontainer, die auf dem kleinen Parkplatz zwischen Mensa und Philipps-Hochhaus beim Berliner Tor aufgestellt sind. Dann geht plötzlich die Tür auf. Es ist ein kurzer Moment nur. Sekundenbruchteile, in denen das Gefühl, nach Hause zu kommen, in einem tristen Container seinen Raum findet. Als die junge Studentin die obdachlose Frau mit einem Lächeln begrüßt, sie in die Arme nimmt und kurz an ihre Schulter drückt. Auf der einen Seite die 24-Jährige mit den langen, streng geflochtenen Haaren und dem wachen Blick, auf der anderen die 45-Jährige mit dem eingefallenen Gesicht, dem Lächeln ohne Zähne und den Augen, die in Abgründe geblickt haben.

Zwei Frauen. Die Obdachlose und die Hoffnungsvolle, die Fragende und die Antwortende, die Gestrandete. Und die Begleitenden – das sind Katharina, Lydia und Teresa. Und noch einige mehr. Rund 20 junge Menschen, die sich ganz bewusst für die Arbeit mit den obdachlosen Frauen entschieden haben. Sie kommen regelmäßig vor oder nach ihren Seminaren und Vorlesungen, morgens und abends in die Notunterkunft, die im Rahmen des Winternotprogramms der Stadt Hamburg seit 1993 für zehn Frauen, die auf der Straße leben, zur Verfügung gestellt wird. Seit zwei Jahren können die Frauen auch im Sommer bleiben.

Ziel der Projektes ist es vor allem, die wohnungslosen Frauen zu stabilisieren

Betreut wird das Projekt vom Studiengang Soziale Arbeit in Kooperation mit der Ambulanten Hilfe Hamburg e.V. unter der Trägerschaft des Caritasverbandes. Ohne die Studierenden ginge es nicht. Sie kommen im ersten Semester, freiwillig, um zu helfen und zu beraten. Sie gehen mit den Obdachlosen zum Arbeitsamt, suchen Wohnungen, begleiten zur Therapie oder sind einfach nur gute Zuhörer. Katharina Gomm hat sich damals im ersten Semester für das Projekt entschieden, weil sie die Menschen unterstützen möchte. Erst waren es nur ein paar Monate. Dann war das Semester um. Und die junge Frau ist geblieben. Vielleicht, weil sie den bedürftigen Frauen etwas geben möchte, das sie selbst zu Hause erfahren hat. „Das Gefühl, da ist jemand, der sich für dich interessiert, dem du nicht egal bist“, sagt sie. „Das allein gibt Kraft.“ Also kommt sie regelmäßig, manchmal zur Morgenschicht von 7.45 bis 9.45 Uhr. Manchmal am Abend von 18 bis 20 Uhr. Oder an den Wochenenden, wenn gemeinsam in dem kleinen Bürocontainer mit den Bewohnerinnen gefrühstückt wird.

Ziel des Projektes ist, die wohnungslosen Frauen zu stabilisieren. „Ihnen einen geschützten Raum zu geben“, sagt Andrea Hniopek. Sie ist Sozialarbeiterin und Dozentin, 45 Jahre alt und leitet das Caritas Wohnprojekt. „Unsere Aufgabe ist es, jetzt für die Frauen da zu sein. Nicht vorher, nicht nachher.“ Es gehe um eine menschenwürdige Unterbringung. „Wir helfen den Frauen, ihre Lebenssituation auszuhalten und zu lernen, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren.“ Manchmal geht es aber auch um mehr. Darum, auf gesellschaftspolitischer Ebene aktiv zu werden, sich dafür einzusetzen, dass hingeschaut und gehandelt wird. „Dass gesehen wird, dass es diese Menschen gibt“, sagt Andrea Hniopek. „Dass es viele dieser Menschen gibt und einen erheblichen Mangel an Unterkünften in Hamburg. Und dass die, die es gibt, qualitativ schlecht sind.“ Das ist die eine Seite des Projektes. Die andere ist, dass hier Studium und Praxiserfahrung aufs Engste miteinander verknüpft werden können. Die Studenten können hier erste Erfahrungen sammeln, eine konkrete Vorstellung von der Lebenswelt ihrer Klientinnen bekommen und eigene Stärken erkennen. Für manche ist bereits nach dem ersten Semester klar, dass die Arbeit mit Obdachlosen für sie beruflich nicht infrage kommt.

Laut der letzten Zählung vor vier Jahren gibt es 218 obdachlose Frauen in Hamburg, knapp 1000 Obdachlose sind es nach diesen Zahlen insgesamt. Doch Experten schätzen, dass es weit mehr sind. Denn es wurden nur Obdachlose in die Statistik aufgenommen, die das Hilfsprogramm Hamburgs wahrnehmen. Andrea Hniopek geht davon aus, dass es ungefähr so viele Frauen wie Männer in der Obdachlosigkeit gibt. „Nur dass die Frauen ihre Situation meist kaschieren und die Angebote der Stadt bewusst nicht wahrnehmen – sei es, weil sie Angst vor dem Gang zum Amt haben, sei es, weil sie alleine klarkommen möchten.“ Fakt aber ist, dass es für die Container mehr Anfragen gibt als Plätze. Und nicht nur im Winter, sondern auch im Sommer, wenn sich das Projekt allein aus Spendengeldern finanzieren muss. Auch hier werden die Studierenden aktiv, sammeln Geld, schreiben Stiftungen an und schaffen mit verschiedenen Aktionen Aufmerksamkeit für ihre Sache.

„Ich habe keine Berührungsängste“, sagt Studentin Katharina Gomm. „Ich spüre, wie nah ich jemandem gehen kann. Ich nehme nicht jede Frau gleich in den Arm.“ Was sie in das Projekt trieb, war zunächst reine Neugier. Der Wunsch, mehr über die Frauen, die ohne Zuhause sind, zu erfahren. Zu verstehen, warum ein Leben auf der Straße mündet, und zu entdecken, wo die eigenen Grenzen liegen, wenn man jemandem zur Seite steht und sich einlässt auf einen ein gemeinsames Stück des Weges. Sie hat schnell begriffen. Dass sie niemanden retten kann, zum Beispiel. Sondern dass jeder Mensch sich selbst retten muss und selbstverantwortlich sein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Sie hat begriffen, dass die Möglichkeiten, Lösungen zu finden, in dieser Stadt begrenzt sind. „Wie sollen die Frauen eine Wohnung finden, wenn es keine gibt?“ Und dass Wut nicht weiterhilft. Weder, wenn es um politische Entscheidungen geht, noch, wenn die Frauen ihre wenigen Chancen in den Sand setzen.

Sie wollte mehr über die Frauen erfahren, die kein Zuhause haben

Sie weiß, dass es weniger darum geht, aktiv zu werden, sondern vielmehr darum, zu begleiten. Zu halten. Auszuhalten. Sie erlebt Frauen, die sich umbringen wollen, die nach der 50. Wohnungsbesichtigung einfach nicht mehr weiterwissen, Mütter, die ihre Kinder nicht mehr sehen und Familien, die auseinandergerissen wurden. Menschen, die nicht nur ihre Wohnung verloren haben, sondern alles, was ihnen im Leben wichtig und wertvoll war. Die Geschichten der Frauen zeigen ihr, wie schnell man in so eine Lebenssituation geraten kann. Durch Krankheiten, persönliche Schicksalsschläge oder negative Erfahrungen mit anderen Menschen – Umstände, für die man nichts kann. Die Gespräche mit den obdachlosen Frauen verlangen den Studierenden viel ab. Aber sie geben ihnen auch viel zurück. Klarheit über die eigene Situation. Selbstbewusstsein. „Ich bin dankbar für mein Leben“, sagt Katharina Gomm. „Aber ich bin mir auch bewusst, dass ich für vieles selbst Verantwortung trage, was gut läuft.“

Antje bewohnt einen der Container auf dem Parkplatz. Sie ist 45 Jahre alt und hat bis heute keine Verantwortung für ihr Leben übernommen. Vielleicht, weil sie von Geburt an wie ein Objekt behandelt worden ist. Ein ungeliebtes Kind, beschimpft, geschlagen und von Vater und Bruder missbraucht. Keiner sagt ihr, dass sie richtig ist, dass sie sich etwas zutrauen kann. Keiner schaut hin. In der Schule nicht, in der Nachbarschaft nicht. Sie weiß nicht, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden. Sie kennt nur die Opferrolle. Sie wird sie spielen, immer und immer wieder.

Katharina kennt Antjes Geschichte. Sie hat sie schon oft gehört. „Mit 18 habe ich mein erstes Kind bekommen“, sagt Antje. Da ist sie bereits alkoholabhängig. Den Vater kennt sie nicht. „Vielleicht ist es mein eigener Vater gewesen. Oder mein Bruder.“ Sie lernt einen Mann kennen, bekommt zwei weitere Söhne. Doch auch diese Beziehung scheitert. Die Jungs kommen in ein Kinderheim. Sie wird erneut schwanger, heiratet. Drei Kinder stammen aus dieser Ehe. Doch sie schafft es nicht, mit dem Trinken aufzuhören. Als die jüngste Tochter ein Jahr alt ist, verlässt sie die Familie, flieht vor der Gewalt ihres Mannes. „Ich wollte was für mich tun, habe eine Entgiftung gemacht, eine Therapie.“ Zwei Jahre hält sie durch. Dann nimmt sie das erste Mal Heroin. Sie hat kein Geld, kein Zuhause, geht anschaffen. Schläft in Hotels, bei fremden Leuten. 2005 lernt sie einen Mann kennen. Das erste Mal in ihrem Leben ist da jemand, der sie wahrnimmt. Der sie lobt und sieht, was sie geschafft hat. Doch als dieser vier Jahre später stirbt, bricht für Antje die Welt wieder zusammen. „Bis heute bin ich nicht wieder stabil“, sagt sie. Auch wenn sie kein Heroin mehr spritzt, subsituiert wird und sich fest vorgenommen hat, etwas zu ändern.

Katharina lächelt. Sie nickt, als Antje sagt, sie glaube, dass sie auf einem guten Weg sei. Sie war schon einmal im Container untergekommen. Das war 2011. Damals ließ sie die zwölf Quadratmeter völlig vermüllt zurück. Und die Studierenden mussten den ganzen Dreck wegräumen. „Das war damals eine ganz andere Antje“, erinnert sich Katharina. Sie verloren sich aus den Augen. Bis die obdachlose Frau im März 2013 erneut einzog. Diesmal hat sie den Container hübsch zurechtgemacht, eine hellblaue Tagesdecke aufgelegt, gelbe Plastikblumen ins Fenster gestellt. Und drei bunte Teddys auf dem Bett drapiert. Die sind von der Reeperbahn. Die Studenten haben ihr aus lilafarbener Wolle eine Smartphone-Krake gehäkelt. Antje hat ihr ein paar Ohrringe eingehängt.

Die 45-Jährige mag die Studenten. Allen voran Teresa Jakobs, eine Kommilitonin von Katharina. Sie ist 22 Jahre alt und im fünften Semester. Eine junge Frau, die sich gern für andere einsetzt. Mit 15 leitete sie eine Kindergruppe des DRK, mit 18 ging sie für ein Jahr nach Ghana in den Entwicklungsdienst. Als sie zurückkam, war ihr klar, dass sie sich auch beruflich für andere engagieren möchte. Auch wenn die Konfrontation sie ihre eigenen Grenzen spüren lässt. „Es ist nicht immer leicht“, sagt die Studentin über ihre Arbeit im Containerprojekt. „Vor allem dann nicht, wenn die Frauen untereinander Stress haben oder die Polizei vorbeikommen muss.“ Doch das seien Ausnahmen. Die Regel sei viel mehr erfreulich. „Es gibt viele schöne Momente, wenn wir zusammensitzen und lachen. Und die Frauen plötzlich anfangen zu tanzen. Oder sich bedanken dafür, dass wir zugehört haben.“

Die Studenten begleiten bei Terminen oder sind einfach da zum Zuhören

Und dann gibt es Begegnungen, die nachhallen. „Es gibt Frauen, die zehn, 15 Jahre obdachlos sind“, sagt Teresa. „Das berührt einen schon, zu sehen, dass nichts passiert ist, nichts gegriffen hat.“ Und es greift meistens nichts. Das ist die Realität. Also muss der Erfolg ihrer Arbeit anders definiert werden, das haben Teresa, Katharina und die anderen Studierenden längst begriffen. „Ich studiere nicht Soziale Arbeit, um etwas zu ändern, sondern um den Menschen beiseitezustehen. Erfolgreich bin ich, wenn jemand zu mir gekommen ist und ich für ihn da sein konnte.“ Und manchmal auch dann, wenn es um ganz praktische Dinge geht. Einen Arzt zu finden für einen Patienten, der nicht krankenversichert ist, so wie Antje. Sie braucht neue Zähne. Die Beine müssen operiert werden. Es gibt Möglichkeiten. Teresa kennt sich da aus. Sie verabredet Termine und begleitet die Frauen, wenn sie das möchten.

Und doch überkommt die Studentinnen manchmal die Wut. „Warum investiert die Stadt in Bürogebäude und in die Elbphilharmonie, und lässt die Menschen auf der Straße schlafen?“, fragt Lydia Grulke. Sie ist 20 Jahre alt, kommt aus St. Margarethen, einem 1000-Seelen-Dorf bei Itzehoe. Seit September ist sie an der Hochschule. Jetzt steigt sie ins Containerprojekt ein, weil sie der Meinung ist, dass man Obdachlose nicht als Abschaum abschreiben soll und auch ihnen eine würdige Unterkunft zusteht. Was sei das für ein Schwachsinns-Spruch, den sie neulich gelesen habe: „Wenn jeder an sich denkt, ist an jeden gedacht“, zitiert sie. Es komme doch auf das Miteinander an, auf die Gemeinschaft. So ist Lydia aufgewachsen. Sie hat einen Pfadfinderstamm geleitet, den Kindern die Werte vermittelt wie Nächstenliebe, den Jüngeren zu schützen, im Team zu arbeiten. Nach der Schule ging sie nach Mexiko, um in einem katholischen Orden zu arbeiten. Sie kümmerte sich um Kinder, die wirklich arm waren. „Sie haben in Bruchbuden gehaust, mit alten Matratzen ihre Zäune gebaut. Aber sie haben sich durchgebissen.“ Schon vor der Reise war ihr klar, dass sie die Welt nicht verändern kann. Sie habe gelernt, dass ein Leben im Überfluss nicht glücklich macht. Und sich gefragt, ob das, was im Leben wirklich wichtig ist, überhaupt käuflich ist. Was sie damit meint? „Beziehungen zu Menschen aufzubauen und zu pflegen. Dass man Rückhalt hat und nicht allein ist. Geliebt wird, egal, was man auch anstellt. Dass man richtig ist, so wie man ist.“

Jetzt warten die Frauen im Container auf sie. Die Obdachlosen, Menschen, bei denen im Leben so vieles verkehrt gelaufen ist. Die ihren Job verloren haben, die Familie, ihre Wohnung. Lydia weiß, dass diese Begegnungen auch deprimierend sein können. Und dass bei allem guten Willen manchmal nicht viel bewegt werden kann. „Aber wenn nur eine von zehn Frauen wieder Mut fasst“, sagt sie, „dann haben wir schon viel erreicht.“

Wer spenden möchte: Evangelische Darlehensgenossenschaft Kiel, Kontonr.: 80 87 874, BLZ: 210 602 37, Stichwort Containerprojekt