Jens-Daniel Herzog bringt an der Staatsoper Hamburg eine gänzlich andalusienfreie „Carmen“ heraus

Alles fließt. Deshalb muss jede noch so populäre Opernproduktion irgendwann mal dran glauben. Vergangene Saison hat die Staatsoper eine neue „Traviata“ herausgebracht, Anfang 2014 ist nun Bizets „Carmen“ fällig, eins der erfolgreichsten und meistgespielten Werke der Operngeschichte. Jens-Daniel Herzog, der an der Dammtorstraße zuletzt mit seinem spritzigen „Flavius Bertaridus“ für Begeisterung sorgte, löst Piero Faggionis naturalistische Lesart von 1980 ab. Die Ausstattung übernimmt Mathis Neidhardt, die musikalische Leitung hat Alexander Soddy, es singen Nikolai Schukoff als Don José, Lauri Vasar als Escamillo und Liana Aleksanyan als Micaëla. Die Titelpartie übernimmt die Mezzosopranin Elisabeth Kulman.

Eine geeignetere Besetzung kann man sich für die Carmen kaum wünschen. Kulman hat im Sommer bei den Salzburger Festspielen mehr als bella figura gemacht: Als Miss Quickly in Verdis „Falstaff“ war sie Herz und Seele von Damiano Michielettos Inszenierung. Außerdem aber hat sie sich mit einem Mut, der durchaus an die Fabrikarbeiterin von Sevilla gemahnt, an die Spitze der Bewegung „art but fair“ gesetzt und sich öffentlich mit dem Intendanten Alexander Pereira über die Arbeitsbedingungen der Sänger beharkt.

Das Pariser Publikum rümpfte die Nase über den Aufzug der Sängerin

Diesen Eigenwillen teilt Kulman mit der Carmen – und der stieß schon bei der Uraufführung auf Unwillen. Die höhere Pariser Gesellschaft rümpfte die Nase über den kurzen Rock und die zerrissenen Strümpfe der Sängerin Célestine Galli-Marié, doch in Wahrheit missfiel offenkundig etwas anderes, nämlich der unbändige Freiheitsdrang und die selbstbewusste Erotik einer Figur, die sich so gar nicht bürgerlichen Regeln beugen wollte. Damals nicht und heute auch nicht.

Für Herzog ist Carmen eine ungreifbare Figur. Der Zuschauer identifiziere sich eher mit Don José, meint der Regisseur: „José ist ein geächteter Außenseiter, vor allem mit seinem Begehren beschäftigt, das er abtöten muss.“

Das Seelendrama Josés hat Bizet meisterhaft zugespitzt. Im Unterschied zu der zugrunde liegenden Novelle von Prosper Mérimée tötet José nur ein einziges Mal; auch hat Bizet das Personal in wenigen Figuren zusammengefasst.

Das Hamburger Regieteam verzichtet auf die Rezitative, die wohlmeinende Epigonen nach Bizets Tod hinzugefügt haben – mit dem Effekt, dass die Kontraste zwischen den einzelnen Nummern weichgespült wurden. Herzog bringt die Oper in der originalen Fassung mit Dialogen auf die Bühne, wie es sich mit den jüngeren Erkenntnissen der Musikgeschichte deckt. Das entspricht seiner Absicht, jeden „Schwulst von dem Stück zu kratzen“, wie er es ausdrückt; schließlich hat er nichts Geringeres im Sinn, als das Stück ins 21. Jahrhundert zu führen. Während Faggioni noch in andalusischem Kolorit schwelgte, dass sich die Volantröcke bauschten, will Herzog die Geschichte ohne Folklore erzählen, nämlich als Studie des gesellschaftlichen Verfalls: „Die Zigarettenfabrik ist die letzte ökonomische Ressource. Als sie geschlossen wird, bleibt nur noch ein leerer Raum des Feierns für die, die nichts mehr haben.“

„Carmen“ 19.1., 18.00 Staatsoper (Premiere). Karten zu 7,- bis 176,- unter T. 356868. Weitere Vorstellungen: 22.1., 19.00 (B-Premiere), 26.1., 18.00, 29.1., 19.00, 2.2., 16.00, 7.2., 19.00, 9.2., 18.00, 12.2., 19.00