Chormitglieder erleben Grenzerfahrungen und Gemeinschaft, sagt Norbert Hoppermann

Norbert Hoppermann ist Leiter der Erzbischöflichen Kirchenmusikausbildung. Der 43-Jährige leitet zudem zwei Chöre am Kleinen Michel, den Kammerchor Cantico und das Vokalensemble consonanz.

Hamburger Abendblatt:

Warum gilt Hamburg als die Stadt der Chöre?

Norbert Hoppermann:

Wir sind eine Großstadt und haben eine sehr ausgeprägte bürgerliche Musik- und Chorkultur seit dem 19. Jahrhundert. Und die hat sich nach wie vor gehalten. Das betrifft vor allem die weltlichen Chöre, es gibt hier viele Konzertchöre.

Die vielen Kirchen- und Gemeindechöre haben ihren Ursprung in der Sozialstruktur Hamburgs und in der gewachsenen Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals wurden durch die Flüchtlinge und Aussiedler viele Kirchengemeinden neu gegründet. Und vor allem die evangelische Landeskirche setzte einen Schwerpunkt in der Musik und stellte viele Kirchenmusiker ein.

Allerdings sterben aufgrund von Überalterung gerade viele Chöre aus. Und durch die Zusammenlegung von katholischen Gemeinden werden natürlich auch Chöre zusammengelegt. So gibt es gerade in dem Bereich einen sehr großen Umschwung. Manche Chöre haben Aufwind, andere nicht.

Was macht für Sie einen guten kirchlichen Chor aus?

Hoppermann:

Ich muss Lust haben, da hinzugehen. Ich sollte das Gefühl haben, dass ich mich dort stimmlich und körperlich weiterentwickeln kann. Und einen guten Chor macht aus, dass er im Gottesdienst genauso wie außerhalb singt. Dadurch spricht er Gemeinde wie Außenstehende an. So kann man den gesamten Schatz der Kirchenmusik heben, präsentieren und unters Volk bringen.

Welche Funktion haben Chöre für die Kirchengemeinde?

Hoppermann:

Sie haben häufig eine große Klammerfunktion. In den meisten Chören kann, wenn man eine gesunde Stimme hat und Lust am gemeinsamen Tun, zunächst einmal jeder mitmachen. Das gibt dem Einzelnen ein Gemeinschaftserlebnis. Aber man überschreitet auch die Grenzen des eigenen Umfelds. Denn wer sich seinen Chor anschaut, wäre mit einigen Mitgliedern vielleicht nie im Leben zusammengekommen. Das ist ein Gewinn. Toll ist, dass man in dieser Verschiedenheit zueinanderfindet.

Welche Rolle spielt der Kirchenchor im Gottesdienst?

Hoppermann:

Der Chor sorgt dafür, dass auch die Gemeinde gut singen kann, der Chor leistet Verkündigung, indem er zentrale Inhalte vermittelt, und er schafft einen großen verlässlichen Rahmen, in dem sich die Liturgie dann auch entfalten kann.

Fühlt man sich denn durch das Singen von religiösen Liedern Gott näher?

Hoppermann:

Ja, definitiv, weil die Musik deutlich übers Gehirn rausgeht. Der ganzheitliche Ansatz beim Singen und Musizieren ist sehr groß, da wir alles, was sich kognitiv nicht erschöpfend erschließt, sensorisch und emotional zugänglich machen müssen. Viele dieser Zusammenhänge tun sich uns erst nach und nach auf. Und in der Spiritualität trägt Singen zur Konzentration bei.

Man kann nach Augustinus singend doppelt beten, was im Sprechen eine halbe Sache bleibt.

Kann man auch im Chor singen, wenn man zwar Lust hat, aber keinerlei Begabung?

Hoppermann:

Da wird's schwierig. Spielen Sie mal mit zwei linken Füßen Fußball, und sei das nur in einer kleinen Dorfmannschaft. Es gibt natürlich immer Chöre, die die Gemeinschaft so über das Singen stellen, dass man auch als Brummer genommen wird. Aber das kippt leicht. Andererseits müssen Vorerfahrungen nicht sein, weil die Stimme dann noch völlig unverbraucht ist und man die Sänger dann noch aufs richtige Gleis schieben kann.

Warum singt man überhaupt?

Hoppermann:

Ich glaube, das ist die ursprüngliche Weise der Kommunikation. Die Entwicklung des Menschen ist übers Singen gekommen, also die Art und Weise, bestimmte Tonhöhen zu erzeugen und durch diese Tonhöhen auch Emotionen zu transportieren. Singen konnte Leben retten, wenn man durch einen Signalschrei den Nachbarn vor dem nahenden Raubtier warnen konnte.

Und stimmt es, dass Singen glücklich machen kann?

Hoppermann:

Ja, definitiv. Weil der Mensch ungespalten ist in dem Moment, wo er singt, da sind einfach Kopf und Bauch zusammen, und das lässt sich nicht voneinander trennen, das betrifft Glück genauso wie Wut, wie Ärger, Eifersucht, es gibt vieles, was man in der Musik ausspielen kann.

Hat Singen auch heilende Wirkung?

Hoppermann:

Ja, das hat es. Weil nicht geheilt sein häufig auch mit Blockade zu tun hat. Gerade psychische Probleme, die nicht erkannt werden, lösen sich häufig beim Singen, aber auch beim Musizieren am Instrument, und befreien.