Macht Chorsingen wirklich glücklich? Stephanie Schiller hat es ausprobiert. Sie hat mit den Sängern der “jungen kantorei st. georg“ das Weihnachtsoratorium von Bach kurzfristig einstudiert und in der St.-Georgs-Kirche aufgeführt. Seither weiß sie: Singen und Angst, das geht nicht zusammen

Jauch-zet, froh-lo-cket" klingt mir durch den Kopf, der Eingangs-Chor schon als Ohrwurm, ich ertappe mich beim Summen. Leute gucken. In der Buslinie 5 stadtauswärts ist auch abends noch genug los, um nicht unbemerkt zu bleiben als vor sich hin strahlende Summerin. Ich lächle und singe denkend weiter, still. Man lächelt zurück. An diesem Abend kommt die Welt sehr freundlich auf mich zu. Noch fünf Tage bis zur Aufführung.

Das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach ist für Kirchenchöre ein Muss. In Hamburg kann es vorkommen, dass dieses wohl populärste Stück bachscher Vokalmusik in den Wochen vor Weihnachten über 20-mal in verschiedenen Kirchen und Konzerträumen zu hören ist. "Macht nichts", findet Ingo Müller, der seit 1985 Leiter der damals neu gegründeten "jungen kantorei st. georg" ist und seit 1988 offiziell der achte Kantor der Gemeinde seit 1747. "Das Weihnachtsoratorium gefällt den Menschen", sagt er. "Für viele gehört es zum Advent." Und deshalb sollten sie es auch zu hören bekommen. Er selbst hat sich für das erste Adventswochenende in diesem Jahr - traditionell der Zeitpunkt für ein großes Konzert des Kirchenchors - auch für Bachs Weihnachtsoratorium entschieden. Unterstützung bekommen die etwa 30 Sänger aus St. Georg vom Hugo-Distler-Chor aus Volksdorf. Das sind noch einmal gut 50 Sängerinnen und Sänger aller vier Stimmlagen. Auch das mit dem Projektchor, der so entsteht, hat Tradition. Die Verbindung zwischen den Chören ist Ingo Müller. Er leitet beide. Sie haben schon oft gemeinsam das Oratorium gesungen.

Wer im Kirchenchor singt, hat sich auch verpflichtet, dies alle drei Wochen im Gottesdienst zu tun. Andere schlafen sonntags aus. Im überproportional "bunten" St. Georg erwartet mancher hier vielleicht auch einen überproportional "bunten" Chor. Doch Klaus, der im Chor Tenor singt, schüttelt den Kopf: "Wir repräsentieren eher die allgemeinen Verhältnisse als die von St. Georg." Überdurchschnittlich viele Homosexuelle etwa, wie sie den Stadtteil prägen, gebe es nicht im Chor. Statistisch betrachtet herrscht in der "jungen kantorei" Normalität. Die Jüngsten sind um die 40.

Zur Einstimmung auf das Konzert treffen sich die Chöre zur ersten großen Projektprobe im Saal des Rauhen Hauses, gleich neben der Erlöserkirche in der Jungestraße, der zweiten Kirche, die zur Gemeinde gehört. An der Tür zum Flur hängt ein Plakat, auf das Kinder Sätze geschrieben haben. "Ich finde Lampenfieber toll", "Keine Angst", "Ganz ruhig".

Ich frage mich, ob man auch aufgeregt sein muss, wenn man zur Ehre Gottes singt. Wenn es doch gar nicht um mich geht, ich sozusagen im Auftrag singe. Ich sehe mich um. 80 mir unbekannte Menschen, die sich seit Jahren kennen. Während Ingo (im Chor ist man per Du) sein Pult auf der höher gelegenen Bühne aufbaut, damit alle ihn sehen können, wird in den Reihen noch getuschelt, Thermoskannen werden zurechtgestellt, die Notenbücher hervorgekramt, Bleistifte.

Ich sage mir: Wenn die Hände feucht werden, ist man bereit für eine neue Erfahrung. Ich schaue noch einmal zur Tür - "Ganz ruhig" ...

Ein Chor ist immer auf den Chorleiter fixiert. "Die Chemie muss stimmen", sagt Ingo. Von zehn, die kämen, um zu singen, blieben dem Chor am Ende fünf bis sechs. Eine Quote, die für ihn spricht. Überdies sind Choristen treu. Die wenigsten verlassen ihren Chor wieder. So entsteht, was der Ingo "eine Lebensgemeinschaft" nennt: intensiv, prägend, krisenfest.

Auf sein Zeichen hin stehen alle auf. Einsingen. "Müh-müh-müh-müh-müh-müh, ma-ma-ma-ma-ma-ma, s-s-s-s-s-s-s." In Halbtonschritten schieben wir die Sequenzen durch die Oktaven. Hoch, runter, leise, kraftvoll. In den Hinterkopf gesungen, in die Augen. Zwischendrin große Seufzer, die ganz hoch oben anfangen und tief fallen. Der Mensch zwischen den Tönen - irgendwie erleichtert. Wie ein Animateur nutzt Ingo Gesten, Grimassen und seine Stimme, um uns in Bewegung zu bringen. Nach dem Einsingen bin ich bereit für alles, was kommt. Manche Frage beantwortet die Praxis: Singen und Angst - das geht nicht zusammen.

Nach fünf Stunden Probe sieht mich Eva, die neben mir steht, an: "Du singst Sonnabend mit?", fragt sie und meint das Konzert. "Ja", sage ich. Eva kann das Weihnachtsoratorium auswendig. Sie ist Literaturwissenschaftlerin und seit 35 Jahren im Hugo-Distler-Chor. Zwischendurch, als sie in St. Georg wohnte, sang sie sechs Jahre in der "jungen kantorei". Im Kirchenvorstand ist sie dort noch immer und für Musik und Kunst zuständig. "Zur Aufführung hin werden wir uns steigern", sagt sie. "Es wird toll - mit Publikum, Orchester und Adrenalin."

Ich begreife, was es für die meisten hier heißen muss, im Chor zu singen. Ohne dass sich einer hervortut, ohne Konkurrenz. Der Chor trägt alle mit - notfalls auch über stimmliche Klippen. In der "jungen kantorei st. georg" ist diese soziale Dimension spürbar. Während andere Chöre Mitglieder wegen nachlassender Stimmqualität durchaus mit Mitte 50 "entlassen", kann unter Chorleiter Ingo jeder so lange singen, wie er möchte.

Zur musikalischen Qualität gehört für ihn auch eine menschliche. "Kirchenmusiker sind musikalische Sozialarbeiter", ist er überzeugt. Darüber hinaus geht es ihm um den Inhalt der Musik, um das, was sie transportieren soll. Der Pastor predigt, der Kantor macht Musik. Am Ende wollen beide dasselbe: Gottes Wort verkünden.

Für diese klare Haltung lieben die Choristen ihren Chorleiter, egal ob sie wie er an Gott glauben oder Atheisten sind. "Genau das macht ihn zu so einem engagierten Menschen", sagt Klaus, der im Alltag Patienten medizinisch versorgt, später, an einem der Tische in Max & Konsorten, der Kneipe gegenüber der Kirche, wo wer mag nach der Probe noch zusammensitzt mit den anderen bei Wein und Bier.

Noch vier Tage.

Eva hat auch gesungen, als sie schwanger war. "Bis zur Entbindung", sagt sie. Ihre beiden Kinder machen auch Musik. Ob es da einen Zusammenhang gibt? "Alle Chorsängerinnen, die ich kenne, haben musikalische Kinder bekommen", sagt sie. Manche singen bis heute, andere spielen ein Instrument, einige hätten sogar Musik studiert. Dass Musik musikalisch und schlau macht, ist wissenschaftlich längst erwiesen. Auch, dass Musik soziale Kompetenz fördert. In einer Studie der Universität Bielefeld an 500 Vorschulkindern erwiesen sich unter den viel singenden Kindern 89 Prozent als schultauglich, bei den nicht singenden Kindern nur 44 Prozent.

Beobachtungen zeigen außerdem, dass es an Schulen mit Musikschwerpunkt bis zu 50 Prozent weniger Ausgrenzung von einzelnen Schülern gibt.

Dafür steht auch die protestantische Kirche: Menschen zu fördern und für mehr Gerechtigkeit in der Welt zu sorgen. Dass dabei auch Glückshormone ausgeschüttet werden - wunderbar!

Das Weihnachtsoratorium von Bach entstand im Parodieverfahren. Etliche Kantaten, die Bach zuvor schon komponiert hatte, arbeitete er 1734/35 in das geistliche Werk um. Viele verwendete Melodien kennt man auch aus dem evangelischen Gesangbuch.

Erinnerungen an die Kindheit tauchen auf, an das Singen im Gottesdienst, ein Gefühl von innerer Heimat, selbst wenn so etwas wie religiöser Glaube darin längst keinen Platz mehr haben mag. Lieder sind eben ein Schatz, den man in sich trägt ein Leben lang. Im Chor wird mir das noch einmal bewusst. Vor der Probe heute Abend wird in der Heilige-Dreieinigkeits-Kirche von St. Georg das Podest für die Sänger aufgebaut.

Sind wir Gott jetzt näher? Jan, einer der Bässe, ist sich nicht sicher. "Das empfinde ich weniger beim Singen, eher in der Musik selbst", sagt er. "Vielleicht weil ich Architekt bin und deshalb stark auf Strukturen achte." In seinen Kompositionen sei Bach einem göttlichen Prinzip gefolgt. Ja, das könne man so schon sagen, findet er.

Aber im Chor singt Jan wegen Edda. Seine große Liebe traf der 69-Jährige vor zwei Jahren in St. Georg. Seitdem singen sie auch gemeinsam in diesem Chor.

Aufgewachsen in einer streng protestantischen Gemeinde in Holland, verbinden sich für Jan mit dem Singen im Chor auch ganz schlimme Erinnerungen an eine strenge Kindheit. "Wenn die manchmal beim Singen hochkommen, frage ich mich schon: Was machst du hier eigentlich?" Aber dann gibt es diese wunderbaren Momente, in denen die einzelnen Stimmen zu einem intensiven, gemeinsamen Klang verschmelzen, Momente von tiefem Glück: "Da weine ich innerlich vor Freude", sagt Jan.

Während der Probe an diesem Abend ahne ich, was Jan meint. Wenn mal Tenor und Alt die Führung übernehmen, mal der Sopran, dann wieder der Bass, wenn das Fugenthema ganz unangestrengt durch die Stimmen wandert, gibt es einen Moment, da gerät der Chor als Ganzes ins Schwingen. Ließe sich Transzendenz fühlen, dann in solchen Augenblicken, die berühren, weil sie selten sind. Studien haben auch bewiesen, dass Singen euphorisierende Botenstoffe freisetzt.

Einen großen Anteil an diesem tiefen Erleben der Musik hat ohne Frage Ingo. Wieder und wieder erklärt er, wie er sich die Gestaltung der einzelnen musikalischen Stücke vorstellt. "Die Menschen brauchen Bilder", sagt er über seine Methoden, genau den Klang zu erreichen, der ihm vorschwebt. "Bilder lassen sich leichter umsetzen als Anweisungen."

Beim Chorus No. 26 winkt er nach den ersten Takten ab. "Lasset uns nun gehen gen Bethlehem", hatten wir gerade gesungen. Ingo ist unzufrieden. "Das klingt, als könntet ihr genauso gut zu Hause bleiben", sagt er. "Aufregung, Aufregung!" Die Hirten seien aufgeregt, die reden durcheinander. Ich erinnere mich, dass er uns das in einer der anderen Proben schon einmal erklärt hat, und denke, leicht hat er es auch nicht mit uns. Ich trage in meine Noten ein, wann wir uns im Konzert hinsetzen, weil dann die Solisten singen, und wann wir wieder aufstehen.

Noch drei Tage.

"Singen ist die eigentliche Muttersprache des Menschen", soll der große Geiger Yehudi Menuhin gesagt haben. "Stimme ist Seele", sagt Ingo. Ich sehe ihn an und denke, recht hat er. Direkt, offen und unverstellt mit der eigenen Stimme umzugehen, das tut auch der Seele gut, das fühlt sich in Momenten an wie Freiheit.

Allerdings, sagt Ingo, wem Singen peinlich ist oder wer lieber eine Oktave tiefer singt als vorgegeben, der müsse lernen, in Erscheinung zu treten, mal was zu riskieren. "Die meisten bekommen das hin", so seine Erfahrung. Üben müsse man halt. Und mutig sein. Gisa, die im Herbst von einem anderen Chor zur "jungen kantorei" wechselte, kennt solche Vorgänge aus ihrer Arbeit als Psychologin: "Wenn wir singen, verlassen wir die rationale Ebene", sagt sie. Sie selbst singt, weil Singen sie aus dem Alltag erhebt - egal ob in einem Kirchenchor oder in einem "weltlichen". Guido, der seit sechs Jahren den Chor in den Proben als Korrepetitor am Klavier begleitet und Stimmbildung unterrichtet, sieht das genauso: "Musik steht über allem, sie ist das, was uns Menschen berührt. Musik ist universal."

Noch ein Tag.

Endlich ist der Konzertag in der Heilige-Dreieinigkeits-Kirche in St. Georg. Aufgebaut hinter dem kleinen Barock-Orchester von St. Georg und den vier Solisten wirkt der Chor majestätisch. Ich erinnere mich an die Hirten ("Aufregung, Aufregung!") und fühle mich genauso. Dabei muss ich nur singen. Wir stehen eng, ganz in Schwarz - schon die Kleiderordnung zeugt von Respekt.

Die Kirche ist voll. Alle knapp 600 Karten sind verkauft. Mein Blick reicht nur bis zu Ingo an seinem Pult. Meine Augen folgen seinen Bewegungen. An seinem Gesichtsausdruck lese ich die Hirten ab, die Engel, die Aufregung, die Ehrfurcht. Als das Orchester mit Paukenschlägen einsetzt, wird mir warm, obwohl es an meinem Platz am Rand des Podests von hinten kalt zieht. Ich folge Ingos Einsätzen in eine andere Welt. Ich bewege mich von Augenblick zu Augenblick und genieße bei unserem ersten Choreinsatz das tiefe Gefühl von Verbundenheit mit den anderen und der Musik. Ob man am Ende bis zu Gott vordringt oder zu verstehen beginnt, was Glaube heißt, ich weiß es nicht. Ich bin einfach nur dankbar.

Zweieinhalb Stunden später singen wir den Eingangschor zum Abschluss noch einmal. Musikalisch schließt sich so der Kreis. Nach dem Schlussakkord stehen die Menschen beim Applaus auf. Damit habe ich nicht gerechnet. Es berührt mich sehr, und es scheint, als seien der Chor und sein Publikum für einen Moment vereint. Im gemeinsamen Glück und einem lauten "Jauchzet, frohlocket".