Im Fernsehen erreicht das Fremdschämen neue Dimensionen. Nur Aufmerksamkeit zählt - egal wie

Korpulente Menschen zeigen ihre "Fettschürze" und erklären, "die muss jetzt weg". Das Fernsehen begleitet sie in Groß- und Nacktaufnahme bis unter das Skalpell. Eltern schreien ihre Kinder an, Kinder keifen zurück, das ganze Leben ist eine Abfolge aus Ahnungslosigkeit, Schmutz und Aggression. Das Fernsehen zeigt uns die derbsten Momente. Mädchen und Jungen, Männer und Frauen schließen die Bekanntschaft von Kakerlaken und Maden, frieren im Nachthemd, singen für das Fernsehen kopfüber am Bungeeseil. Sie wollen "Dschungelkönig", "Superstar", "Topmodel" werden: Ist das nicht alles zum Fremdschämen?

Der neue Begriff begann seine Karriere etwa zur selben Zeit, als das (Privat-)Fernsehen sich in eine Anstalt zur Austreibung von Scham verpuppte, an der Jahrtausendwende. Seit immer mehr Menschen sich für immer weniger schämen, müssen es andere tun. Das stellvertretende, das fremde Schämen ersetzt das eigene Schamempfinden. So suggeriert es der Begriff. Tatsächlich sind die Verhältnisse komplizierter: Die, die sich nicht schämen für ihre öffentlichen Peinlichkeiten, und jene, die sich fremdschämen, verbindet dieselbe Lust am Schamlosen, Hirnlosen, Geistlosen.

Momentan erreicht das Fremdschämen neue Dimensionen. Die Suche nach dem "Supertalent" beschert RTL freitagabends Einschaltquoten um die 40 Prozent in der Zielgruppe. Knapp zehn Millionen Menschen insgesamt wollen es nicht verpassen, wenn unter Dieter Bohlens Anleitung und Aburteilung Talent sich darin manifestiert, Darmwinde kunstvoll wehen zu lassen, Geschlechtsteile auszustellen oder gotterbärmlich ein Instrument zu traktieren. Den Massen gefällt's.

Was gefällt ihnen daran, was macht es - womöglich - aus ihnen, was aus den Beteiligten, den Entschämten?

Wer sich dem öffentlichen Gelächter preisgibt, hat scheinbar die Gesetze unserer global gewordenen Ökonomie der Aufmerksamkeit verinnerlicht. Demnach ist es egal, was einer kann oder tut. Hauptsache, er wird wahrgenommen, er ragt heraus. Auch die "Generation Facebook" zehrt von dieser Aufmerksamkeitsökonomie; Schau-mich-an heißt die Losung. Neue Abhängigkeiten, neue Entstellungen des Menschenbildes sind (auch) die Folge. Der Mensch begreift sich als Marke, für die es zu werben gilt mit allen Mitteln. Wer sich nicht interessant zu machen versteht, gilt als Versager. Nichts anderes meint Dieter Bohlen, wenn er in "Deutschland sucht den Superstar" plärrt: "Das Leben ist hart, und ich schwör's euch, diese Show ist härter." Die Exerzitien der Härte, die planvolle Überforderung vieler Kandidaten, soll an der Mär stricken vom gesellschaftlichen Erfolg durch Selbsterniedrigung.

Nur scheinbar haben die in Castingshows, Talkshows oder pseudodokumentarischen "Scripted Reality"-Formaten bloßgestellten Akteure die Gesetze der Aufmerksamkeit durchschaut. Sie liefern in der Regel lediglich Mehr vom Selben, erzählen die derbe Zote noch einmal. Sie sind eine weitere schamlose Zumutung in langer Reihe. Vielleicht sind sie absichtslos hinein geschlittert, vielleicht sind sie kühle Kalkulierer. Ganz ohne Folgen aber wird der Sprung in den Tümpel des Abwägungslosen nicht bleiben. Sie bezahlen die Fünf-Minuten-Aufmerksamkeit damit, dass sie auf ewig eine Fußnote sein werden im Grundkurs, wie man sich zum Affen macht. Das Mediengedächtnis vergisst nichts. Traurig ist solch fehlgeleiteter Geltungsdrang und eine Lektion für alle: Wir müssen wohl noch einmal von vorne die Geschichte vom Menschen und seiner Würde erzählen.

Nicht trivial sind die Folgen auf Seiten der Konsumenten. Wer denen zuschaut, die sich gutgelaunt gehen lassen, hat Anteil am selben "Verblendungszusammenhang" (Adorno). Er akzeptiert - so er nicht die Veranstaltung ironisch nimmt, was zu empfehlen ist - die beiden Grundannahmen der Fremdschäm-Formate: dass formlose Peinlichkeit mit Aufmerksamkeit belohnt werden soll und dass Aufmerksamkeit die maßgebliche Währung unserer Gesellschaft ist. Die wachsende Bereitschaft, sich solchen Formaten als Mitspieler oder Konsument hinzugeben, deutet auf eine gewaltige gesellschaftliche Leerstelle. Ganz offensichtlich sind die Bande, die uns zusammenhalten, derart dünn, dass jeder sein Heil im Ego-Marketing sucht, und sei es mit untauglichen Mitteln.

Medien sind trendverstärkend, selten trendsetzend. Sie spitzen die Neigung unserer Oberflächengesellschaft zum Distanzlosen zu. Vermutlich gibt es kein anderes Gegenmittel, als die Scham zu rehabilitieren. Sie erschließt uns laut dem US-amerikanischen Philosophen Bernard Williams, "wer wir sind und wer wir zu sein hoffen." Wer sich schämt, sieht sich plötzlich mit den Augen eines Dritten und merkt, dass er in dieser Perspektive schlechter aussieht als im Bild von sich selbst. Dem Schamlosen hingegen ist es egal, welches Bild er durch sein Tun und Reden erzeugt.

Schamlosigkeit liegt dort vor, wo neben dem Ich nichts Platz hat, wo es nicht gelingt, von sich abzusehen. Jene vorausschauende Scham, die falsche Taten verhindert, stiftet Erkenntnis. Sie zwingt uns, den Anderen in uns hineinzunehmen. Sie ist der erste Schritt heraus aus einer grenzenlosen Selbstbezüglichkeit.

Alexander Kissler ist Medienwissenschaftler und Sachbuchautor.