Missachtung und der Mangel an Anerkennung ist für Arme beschämend. Denn Arbeit ist das Einzige, was bei uns wirklich zählt

Hildebrand Henatsch (76) war jahrzehntelang Pastor in der Emmaus-Gemeinde in Wilhelmsburg. Von dort aus gründete er die Arbeitsloseninitiative Wilhelmburg, dessen Hauptprojekt die Wilhelmsburger Tafel ist. Christel Ewert (48) ist seit 13 Jahren Sozialberaterin in dem Stadtteil. Sie wird vom Kirchenkreis Hamburg-Ost bezahlt und berät bis zu 700 Bedürftige jährlich.

Hamburger Abendblatt:

Was ist an Armut so beschämend?

Christel Ewert:

Armut wird von der Gesellschaft oft als Mangel empfunden. Wer nicht erwerbstätig ist, ist kein wertvolles Mitglied der Gesellschaft, das ist beschämend. Das Fremdbild, das andere ihnen suggerieren wird von armen Menschen oft angenommen.

Hildebrand Henatsch:

Das Beschämende ist die Missachtung, der Mangel an Anerkennung. Viele denken, sie werden als Schmarotzer betrachtet. Die Scham wird ihnen gemacht.

Wie drückt sich die Scham im Alltag dieser Menschen aus?

Ewert:

Es braucht viel Überwindung, um zu mir in die Sozialberatung zu kommen, obwohl wir unabhängig und anonym sind. Für viele ist es ganz schwer, ihre Scham offenzulegen und zuzugeben, dass sie auf Hilfe angewiesen sind. Aber sie wissen nicht, wie sie aus ihrer Misere rauskommen. Sie kommen erst, wenn ihre Situation wirklich desolat ist. Ich erlebe viel Hoffnungslosigkeit, bis hin zu einer inneren Lähmung.

Wir überträgt sich die Scham auf die Kinder, wie gehen die damit um?

Henatsch:

Hier gibt es viele Kinder, die von ihren Eltern vermittelt bekommen, du taugst eigentlich nichts. Dann machen sie diese Erfahrungen des nicht Dazugehörens in der Schule. Es gibt hier eine Karriere von Menschen, denen die Scham quasi von Kindheit an eingeimpft wird. Kinder so zu stärken, dass sie selbstbewusst durchs Leben gehen, setzt eine eigene Reflektion voraus und dass man selbst eine Wertschätzung erfahren hat. Was auffällt ist, dass viele dieser Kinder Markenklamotten tragen. Das Materielle als schützendes Statussymbol, das ist sicher auch eine Folge von Scham.

Warum ist häufig gerade der Gang zur Sozialbehörde so schwierig?

Henatsch:

Es ist die Behandlung dort, die die Menschen beschämt. Das hat auch was mit den Amtsinhabern zu tun. Das sehe ich selbst bei der Tafel. Manche, die einen Posten haben, fangen an, andere zu demütigen, Herrschaft auszuüben.

Es gibt also nicht automatisch Solidarität unter den ärmeren Menschen?

Henatsch:

Hier entsteht ganz schnell eine Hackordnung und dass gerade bei solchen Menschen, die sich zusammentun sollten. Dabei ist Sinn der Tafel, dass sie hier Gemeinsamkeit erfahren und wissen, dass alle ein ähnliches Schicksal haben. Dann brauchen sie sich nicht mehr zu schämen.

Wie kann man den Menschen helfen, ihre Scham zu überwinden?

Henatsch:

Unsere Projekte helfen zum Beispiel. Unsere Arbeitslosenhilfe haben wir gegründet, damit Leute sehen, dass sie etwas tun können. Indem sie in der Fahrradwerkstatt oder bei der Tafel arbeiten, bekommen sie wieder etwas Selbstbewusstsein..

Ewert:

Es ist wichtig, dass die Menschen eine Arbeit machen, bei der sie eine Struktur haben und Anerkennung bekommen. Aber Ein-Euro-Jobs werden oftmals auch als entwertend empfunden, wenn gut Qualifizierte Jobs bekommen, die ihnen völlig fremd sind. Sie wollen sich von ihrer Arbeit auch ernähren können.

Früher war es eine gesellschaftliche Katastrophe, von Sozialhilfe abhängig zu sein. Heute scheint es fast normal, hat sich das gewandelt?

Ewert:

Früher gab es das Gefühl, dass man ein Recht auf Arbeit hat. Heute gibt es oft diese Resignation, dass es keinen Sinn hat, sich zu bemühen.

Henatsch:

Ist der Ruf erst ruiniert lebt es sich ganz ungeniert. Das haben hier sicher einige verinnerlicht, haben sich in ihrer Arbeitslosigkeit eingerichtet. Aber die größere Gruppe hat sich nicht damit abgefunden. Die wollen arbeiten, aber genügen den Ansprüchen des Arbeitsmarktes nicht mehr. Das Fatale unserer Leistungsgesellschaft ist, dass wir nur anerkannt werden, wenn wir viel leisten. Das spricht für mich für das bedingungslose Grundeinkommen. Denn das würde festhalten, du bist was - ein Mensch. Deine Arbeit ist wichtig, aber du bist dazu nicht gezwungen, um etwas zu sein. Das würde vielen das schamhafte Gefühl nehmen.