Der Maler William Turner war nicht sehschwach, sondern seiner Zeit voraus

Mit ständig wachsender Verwunderung betrachtete Richard Liebreich im März 1872 die Gemälde des Künstlers. Als er am Ende jener William-Turner-Ausstellung angelangt war, die die Londoner National Gallery damals in ihren Räumen zeigte, war sich der deutsche Augenarzt sicher: Die immer stärker wahrnehmbare Auflösung der Form im Werk des an sich so begabten Malers ließ für ihn keinen Zweifel zu: Turner hatte im fortgeschrittenen Alter unter einer Linsentrübung gelitten.

Damit erhielt das Gestaltungskonzept des großen britischen Künstlers Ende des 19. Jahrhunderts eine zwar nachweislich falsche, aber immerhin naturwissenschaftliche Erklärung. Tatsächlich war das Verhältnis des in seiner Sehkraft bis ins Alter ungetrübten Malers zur zeitgenössischen Naturwissenschaft durchaus eng.

Turner unterhielt gute Kontakte zu seinen Wissenschaftler-Kollegen aus der Royal Society. Dass er sich bei seinem eigenen Werk neben den aktuellen Erkenntnissen der Naturwissenschaften auch die noch aus der Antike stammende Elemente-Lehre zu eigen machte, belegt die Ausstellung "William Turner. Maler der Elemente", die das Bucerius Kunst Forum noch bis zum 11. September zeigt.

Die Schau zeigt im Erdgeschossbereich, wie sich Turner mit den Elementen Erde, Wasser, Feuer und Luft auseinandersetzte, während im oberen Oktogon jene Werke zu finden sind, in denen er die Elemente zu jener neuen Einheit verschmolz, in der oft jede Gegenständlichkeit überwunden wurde. Dieses Gestaltungskonzept wirkte noch Ende des 19. Jahrhunderts so kühn, dass ein Augenarzt schon auf den aus heutiger Sicht kuriosen Gedanken kommen konnte, die körperlos-abstrakten Gebilde müssten allein Ausdruck einer bedauerlichen Krankheit sein.

William Turner. Maler der Elemente bis 11.9., Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2, tägl. 11.00-19.00, Do 11.00-21.00