Atomkraft und Kohlestrom sind out. Viel Ingenieurskunst ist gefragt, um in Hamburg den Klimaschutz voranzubringen

Die Sturmflut "Grote Mandraenke" verschlang im Jahr 1362 große Küstenabschnitte der Nordsee, darunter auch die sagenumwobene Stadt Rungholt. In einigen Jahrzehnten, so fürchten Wissenschaftler, könnte der Meeresspiegelanstieg ungeschützte Landstriche überschwemmen und versinken lassen wie Rungholt vor gut 600 Jahren. Das Szenario leiten Pessimisten aus Ergebnissen der Klimaforschung ab. Andere fragen sich, was geschehen würde, wenn im Atomreaktor in Krümmel ähnlich wie beim katastrophalen Unfall im japanischen Fukushima die Kühlung ausfallen würde? Verstrahltes Löschwasser würde dann womöglich in die Elbe fließen, nach wenigen Stunden den Hamburger Hafen erreichen und das wirtschaftliche Herz der Stadt vielleicht für Jahrzehnte zum Stillstand bringen.

Beide Szenarien haben einen gemeinsamen Nenner: den Energiehunger der Industriegesellschaften. Er spielt sich vor allem in Städten ab; sie verbrauchen weltweit 80 Prozent der konsumierten Energie. Auch Hamburg ist gefordert, den Energieverbrauch auf einem nachhaltigeren Weg zu decken, als dies bislang geschah, erst recht als Europäische Umwelthauptstadt. Auf dem Stadtgebiet arbeiten zwar keine Kernkraftwerke, wohl aber vor den Toren der Metropole. Sie kann ihren Strom längst nicht selbst herstellen, kauft ihn zum Großteil in Schleswig-Holstein ein. Dort stehen das Kernkraftwerk Brokdorf (Brunsbüttel und Krümmel sind seit 2007 wegen Störfällen nicht am Netz) und das Steinkohlekraftwerk Wedel - zwei Vertreter des fossilen Energiezeitalters. In Wedel wird das Fossil Kohle verheizt, in Brokdorf steht das Adjektiv fossil für nicht mehr zeitgemäß. Schon vor Fukushima sprach sich die Mehrheit der Deutschen gegen die friedliche Nutzung der Atomkraft aus, und selbst Befürworter sehen sie nur als Brückentechnologie zu den erneuerbaren Energien Sonne, Wind, Wasserkraft und Biomasse/-gas.

Ansätze des Wandels sind in der Umwelthauptstadt zu besichtigen, von Solarsiedlungen über Biogasproduktion bis zur Elektromobilität. Doch der Weg ins neue Energiezeitalter ist verschlungen. In Moorburg wächst ein Kohlekraftwerk heran, das so gar nicht den Ambitionen der Stadt entspricht, bis zum Jahr 2020 ihren CO2-Ausstoß um 40 Prozent zu senken.

Der Bauherr Vattenfall argumentiert, der neue Kohleofen zähle zu den modernsten der Welt. Deshalb würden pro Kilowattstunde Strom "nur" 750 Gramm CO2 frei, bei alten Kohlekraftwerken seien es 950 Gramm (in Wedel sogar gut 1100 g). Die Gegner machen die Rechnung auf, der Kohlestrom aus Moorburg werde die Hamburger Emissionen um jährlich neun Millionen Tonnen CO2 erhöhen, und warnen davor, dass dieser Ausstoß auf ein Kraftwerksleben von 40 Jahren festgelegt sei.

Auf Dauer führt kein Weg an den erneuerbaren Energieträgern vorbei, obwohl auch sie nicht ohne Nebenwirkungen sind. Hier ist deutsche Ingenieurskunst gefragt. Sie hat schon in den vergangenen Jahren dazu geführt hat, dass Deutschland Exportweltmeister im Bereich der Umwelttechnologie ist.

In den 1970er-Jahren wurden Atomkraftgegner als Technikmuffel verschrien. Heute zählen diejenigen, die eine Energieversorgung ohne Kohle- und Atomstrom wollen, zur technischen Avantgarde. Denn die modernen Herausforderungen heißen: Energie sparen, Strom aus erneuerbaren Energien zwischenspeichern und das Stromnetz so organisieren, dass es große Mengen Ökostrom verträgt. Das Schlagwort zum klügeren Umgang mit Energie heißt Effizienz. Es gilt, aus der eingesetzten Energie möglichst viel nutzbaren Strom, Kälte, Wärme oder Antriebsenergie herauszuholen. Wenn der Energiekonsum auf das technisch Machbare heruntergeschraubt würde, fällt es deutlich leichter, den geringeren Bedarf zu einem hohen Anteil aus erneuerbaren Energien zu decken. Damit dies gelingt, müssen Solar- und Windstrom sowie eingefangene Sonnenwärme gespeichert werden können. Hier gibt es verschiedene technische Optionen, etwa die Produktion von Wasserstoff als lager- und transportierbarer Energieträger, Druckspeicher oder Pumpspeicherkraftwerke.

Beim Stromnetz setzen Ingenieure neben dem schlichten Ausbau der Trassen auf einen Paradigmenwechsel. Bislang werden die Netze von der Anbieterseite stabilisiert. Das heißt: Wenn viel Strom nachgefragt wird, wird ein Kraftwerk zugeschaltet, bei geringem Bedarf die Produktion zurückgenommen. Das kann mit einem hohen Anteil von Wind- und Solarstrom nicht funktionieren, zu groß sind dann die wetterabhängigen Schwankungen. Also gilt es, sogenannte Smart Grids zu entwickeln: Stromnetze, bei denen Verbraucher an- und abgeschaltet werden können, um Belastungsspitzen zu kappen oder ein übergroßes Angebot von Solar- oder Windstrom bestmöglich auszunutzen. Am einfachsten geht dies mit Großverbrauchern. So könnten Kühlhäuser bei Stromüberschuss "auf Vorrat" Kälte produzieren, von der sie in Zeiten starker Nachfrage (und hoher Strompreise) zehren können.

Große Unternehmen, Hochschulen und Technologiezentren sind dabei, diese Zukunftstechnologien zu entwickeln oder zu perfektionieren. Das ist auch bitter nötig, denn nur mit beherztem Handeln und finanziellem Engagement lässt sich der Klimawandel soweit in Grenzen halten, dass seine Folgen bezahlbar bleiben - auf globaler Ebene, in Deutschland, in Hamburg.

Manche Optimisten träumen von Palmenpromenaden am Elbufer, schließlich könne der Norden von der Erwärmung auch profitieren. Doch ob aus St. Peter-Ording St. Tropez oder eher Rungholt wird, kann niemand vorhersagen. Klimaforscher schauen nicht in Kristallkugeln, sondern auf Computer-Bildschirme. In den Rechnern laufen Modelle, die die physikalischen, chemischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten des blauen Planeten abzubilden versuchen und dies bislang nur unvollständig können. Zudem basieren die Modelle auf angenommenen Eckdaten zur Entwicklung der Weltbevölkerung, der globalen Wirtschaft, des Energieverbrauchs.

Diese Eckdaten sind die Stellschrauben für die (Klima-)Zukunft. Allein darauf zu hoffen, dass die Ostseeküste zur Riviera wird, und schon einmal ein Orangenbäumchen zu pflanzen, ist zu wenig. Das weiß auch die Stadt Hamburg und erprobt an vielen Stellen, ihren Energiehunger intelligenter als bisher zu stillen. Als Europäische Umwelthauptstadt hat sie die Chance, das erworbene Wissen stark zu verbreiten. Auch um daraus neue Märkte aufzubauen. Denn Klimaschutz und der geizige Umgang mit energetischen Ressourcen ist nicht nur vernünftig, er kann auch lukrativ sein.