Um sechs Uhr ist Gisela wach. Sie steht auf, geht im Nachthemd zur Tür und ruft auf den Flur: "Ich brauche Hilfe." Auch Sigi und Elli schlafen um diese Uhrzeit nicht mehr. Sigi kann nicht mehr rufen, sie klopft auf ihr Bett. Elli hat die Augen geöffnet und lächelt.

Zweieinhalb Stunden später. Am Frühstückstisch der Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz sitzen: Hilde, Uschi, Elli, Sigi, Herta, und Gisela. Thekla, die siebte Mitbewohnerin frühstückt im Bett, das mag sie so. Was die sieben Frauen im Alter zwischen 82 und 97 Jahren verbindet, ist ihre Krankheit: Sie haben Demenz, meist vom Typ Alzheimer. Was sie unterscheidet und manchmal trennt, sind ihre Biografien. Manche von ihnen waren berufstätig, andere Hausfrau. Einige von ihnen können noch Unterhaltungen führen, andere sprechen kaum noch. Einige fragen mehrmals am Tag, wo sie hier eigentlich sind. Einige können nur mit Unterstützung gehen. Pflegebedürftig sind sie alle.

Hier, in der ambulanten Dementen-WG der Martha-Stiftung, treffen all diese Charaktere und Temperamente aufeinander. Wie im richtigen Leben da draußen. Nur dass hier drinnen noch eine Krankheit auf das Leben einwirkt: Hirnzellen sterben ab; das Denkvermögen, die Sprache, die Motorik gehen verloren - bei manchen langsam, bei manchen schnell. Demenz macht müde, verzweifelt, aggressiv. Demenz ist ein Abschied von sich selbst. 1,3 Millionen Demenzkranke gibt es in Deutschland. Nach einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung wird sich diese Zahl in den nächsten 30 Jahren mehr als verdoppeln.

Hier, in der Dementen-WG in Langenhorn, leben die Frauen ein Wohn-Modell vor, das bisher nur mit Hippies und Studenten in Verbindung gebracht wurde. Ein Wohnmodell der Zukunft für eine alternde Gesellschaft.

Die Frauen sind mit ihrer Krankheit nicht allein. Da ist die Gemeinschaft mit den Mitbewohnerinnen, die Gruppendynamik. Und da sind die Pflegekräfte, die rund um die Uhr für sie da sind. Tagsüber mindestens zwei Pflegekräfte, nachts eine.

So ist ein möglichst normales, ein würdevolles Leben möglich, glauben auch die Angehörigen der Demenz-Kranken. Sie tragen das Konzept nicht nur finanziell mit, sondern mit viel Engagement. Wenn ein Platz in der WG frei ist, dann stimmen die Angehörigen über den Bewerber oder die Bewerberin ab. Mitbewohner und Angehörige müssen bereit sein, sich in die Gruppe einzufügen. Wenn die Menschen einziehen, sollten sie noch kommunizieren und möglichst noch laufen können. Einmal im Monat treffen sich die Angehörigen der WG, um organisatorische Dinge zu besprechen. Viele Angehörige sind häufig da und helfen im Haushalt mit. Nur so funktioniert das Projekt, das es seit vier Jahren gibt.

Sigis Nichte Kirsten hat sich normale Altenheime angeschaut, bevor sie ihre Tante in der Dementen-WG anmeldete. "Dort gab es sehr viele Demente auf engem Raum und wenig Personal. Die Dementen hatten dort nicht das Gefühl, frei zu sein", sagt sie. Sie ist die Sprecherin der Angehörigen, opfert viel Zeit. Warum? "Weil ich mich meiner Tante verpflichtet fühle und weil mir das Projekt ans Herz gewachsen ist. Ich will, dass die Idee weitergetragen wird", sagt Kirsten. Manchmal jedoch, gibt sie zu, wird ihr alles zu viel. Weil sie auch eine Mutter hat, die sie noch pflegen muss. Giselas Sohn Wolfgang sagt, dass er seine Mutter nicht in ein gewöhnliches Heim hätte bringen können. Hier in der WG kann er seine Mutter immer besuchen, er hat das Gefühl, in die Pflege seiner Mutter eingebunden zu sein, indem er die Finanzen der WG organisiert und oft vorbeikommt.

Die Hausmutter der WG ist 53 Jahre alt, gelernte Altenpflegerin mit Zusatzausbildung Gerontopsychiatrie und heißt Hannelore. Sie hat an diesem Morgen um kurz vor sechs Uhr zusammen mit der Nachtwache den WG-Bewohnerinnen aus dem Bett geholfen, ist mit ihnen zur Toilette gegangen. Hat ihnen Schmerzmittel gegeben, beim Duschen geholfen. Und sie hat Frühstück gemacht. Hannelore macht auch die Wäsche, sie putzt, macht Sport mit den Damen, liest ihnen Geschichten vor und kocht mit ihnen. In einem Altenheim müssten Demente sich bei fast jeder dieser Tätigkeiten auf einen anderen Menschen einlassen. Das war genau das, was Hannelore in dem Altenheim gestört hat, wo sie früher gearbeitet hat. Deshalb hat sie die Dementen-WG mit gegründet und aufgebaut. "Inzwischen könnte ich mir nichts Anderes mehr vorstellen. Ich mag den ganzheitlichen Ansatz", sagt sie.

Bei der Martha-Stiftung, die zur Diakonie gehört, hat Hannelore Menschen gefunden, die genau so dachten wie sie. Die Stiftung ist Mieterin der Acht-Zimmer-Senioren-Wohnung und vermietet die Zimmer an die Bewohner. Durch die Wohnungstür geht es in den großen Aufenthaltsraum mit angeschlossener Küche. Vom Flur gehen die Zimmer der Bewohnerinnen ab: Jede hat ein Schlaf- und ein Badezimmer. Jede hat sich ihr Zimmer nach ihren Vorstellungen eingerichtet. Sie ziehen sich hierhin zurück, wenn sie mal Abstand und Ruhe brauchen. An den Türen hängen Fotos aus ihrem Leben: Herta mit ihrem Mann, Herta als junge Mutter, Herta jetzt. Die Frauen sollen wissen, wer sie sind.

Hannelore greift zum Abendblatt. Sie liest das Horoskop vor, das ist ein Ritual. Herta, vom Sternzeichen Löwe, wird darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie dazu neigt, wesentliche Arbeiten aus Bequemlichkeit zu vernachlässigen. Die Frauen nicken und essen. Elli und Sigi brauchen dabei Hilfe. Thekla soll der 97-jährigen Herta ein Brot mit Pflaumenmus bestreichen. "Schmier aber schön!", ermahnt Herta ihre Helferin. "Aber vorkauen muss ich es dir nicht, oder?", kontert Thekla. Theklas Demenz ist noch in einem frühen Stadium, die Parkinson-Krankheit macht der 82-Jährigen mehr zu schaffen. An ihren Mitbewohnerinnen kann sie die Auswirkungen der Demenz sehen.

Das Frühstück ist zu Ende. Hannelore fragt: "Was wollen wir heute zu Mittag essen?" Die "Essens-Ermittlung" ist ein fester Bestandteil des Tages, die Frauen sollen aktiv daran mitwirken. Nach einer Minute steht fest: Es soll Bratkartoffeln geben mit Spiegelei, dazu Salat. Hannelore legt einen Salatkopf und Möhren auf den Tisch. "Mögt ihr alle Salat?" Elli scheint nicht mehr zu wissen, was das ist. Hannelore drückt ihr eine Möhre in die Hand: "Soll das da rein?", fragt sie. Elli fühlt - und nickt. Das ist genau das, was Hannelore will: Die Sinne sollen angeregt werden. Die Frauen sollen Fähigkeiten wieder entdecken, die sie vor der Demenz hatten. Hannelore verteilt Messer und Kartoffelschäler. Gisela schneidet ihre Möhre in ganz feine Scheite, Thekla bevorzugt große Stücke. Wenn eine der Frauen nicht mehr weiß, wie es geht, führt Hannelore ihr die Hand. Hilde hat keine Lust auf Kartoffelschälen. "Du bist nichts Besseres", ermahnt Thekla sie, "ich habe auch keine Lust." Dann wendet sie sich zu Hannelore: "Ich schäle nur Kartoffeln, wenn Hilde auch schält." Hilde fügt sich. Die Gruppen-Dynamik hat gewirkt.

"Guten Morgen, die Damen!" In der Tür steht Lucky, der Seniorenclown. Er trägt eine Pappnase, einen grünen Puschel-Overall und einen riesigen grünen Hut. Zwei mal in der Woche besucht er die WG, er soll für gute Laune sorgen, die Frauen spielerisch fördern.

"Heute können wir richtig viel Spaß haben! Ich habe etwas Besonderes in meinem Hut", ruft er stolz. "Hoffentlich hast du auch was Besonders in deinem Kopf", stichelt Thekla. Gisela, die bislang still am Tisch gesessen und Kartoffeln geschält hat, wirkt sehr amüsiert.

Vor vier Jahren ist die heute 90-Jährige in die WG eingezogen. Damals ist ihr Mann gestorben, seinen Tod hat sie nie verarbeitet, das hat die Demenz verhindert. Sie denkt heute noch, dass ihr Mann lebt. Oder sie hält ihren Sohn für ihren Mann. Früher war die gebürtige Berlinerin sehr temperamentvoll, die Demenz hat aus ihr eine in sich gekehrte Frau gemacht. Doch jetzt schaut sie gebannt in den Hut, den der Clown jetzt abnimmt. "Och, du liebe Zeit", sagt sie fröhlich. Eine Piccolo-Flasche kommt zum Vorschein. Doch kein Sekt ist drin, sondern eine Konfetti-Fontäne schießt Gisela entgegen. Verblüfft holt sie sich die Schnipsel aus dem Haar.

Während der Clown weiter herumalbert, schiebt Hannelore die 84-jährige Sigi im Rollstuhl in ihr Zimmer. Sigi muss auf die Toilette, das kann sie nicht mehr alleine, Hannelore und die Hospitantin Laura müssen ihr helfen. Sigi kann sich nur selten erheben, ihr Körper ist zu schwach. Manchmal öffnet sie den Mund, Stakkato-Salven an Wörtern kommen heraus. Nicht mal ihre Angehörigen können sie verstehen, es ist ein Mischmasch aus Deutsch und Englisch. Sigi hat viele Jahre auf der britischen Kanalinsel Guernsey gelebt. Sigi war eine modebewusste Frau mit toller Figur. Sie war Balletttänzerin von Beruf und spielte in ihrer Freizeit mit Leidenschaft Golf. Heute weiß sie nicht mehr, was ein Golfball ist.

Manchmal jedoch kommt die Vergangenheit wieder hoch. So wie heute. Immer wieder schreit Sigi den Namen ihrer Schwester: Heinza. Ihre Betreuerinnen versuchen, sie zu beruhigen. "Heinza geht es gut", sagen sie. Heinza lebt in Kaltenkirchen. Aber während des Zweiten Weltkriegs wurden die beiden Schwestern getrennt. Dieses Trauma durchlebt Sigi jetzt noch einmal.

Uschi stolzierte durch das Wohnzimmer. "Das hier ist mein Eigentum", sagt die 85-Jährige stolz und zeigt auf das Ledersofa. "Ich wollte nicht, dass es in fremde Hände kommt." Jede der Damen konnte etwas zum Hausstand beitragen. Damit sie sich weiterhin wie zu Hause fühlen.

Uschi steht jetzt vor dem Vogelkäfig und zwitschert den beiden Wellensittichen zu. Sie hat heute gute Laune. Es gibt aber auch Tage, an denen sie die Welt nicht mehr versteht, an denen sie aggressiv ist, weil sie nicht weiß, wo sie ist und warum ihre Angehörigen sie allein gelassen haben. Es ist Hannelore, die dann ihre Sorgen ernst nimmt, ihr sagt, dass sie jetzt hier wohnt. Dann wird Uschi ruhiger. Nach außen wirkt Hannelore eher nüchtern, praktisch veranlagt. Sie spricht nicht gerne über sich oder über ihre Gefühle. Um so liebevoller ist sie mit den alten Frauen. Gibt Nähe für diejenigen, die sie brauchen und einfordern.

Beim Mittagessen stehen zusätzlich Gläser mit flüssiger Medizin zum Einnehmen auf dem Tisch. Hilde verdreht die Augen. Hospitantin Laura ertappt sie dabei, wie sie die rosa Flüssigkeit über den Salat gießen will. Beim Essen reden die Frauen nicht viel.

Danach holt Hannelore ein großes Tuch, an den Seiten sind Laschen, die die Frauen festhalten müssen. Hannelore wirft einen Ball auf das Tuch - das Ziel des Spiels ist, dass er nicht runterfällt. Jede Frau muss die Lasche anheben, wenn der Ball auf sie zuschießt. Elli wirkte abwesend bislang, jetzt boxt sie den Ball zurück, als er auf sie zukommt. Ihre Reflexe funktionieren.

Elli ist 88, vor zwei Jahren zog sie in die WG. Mit 80 wurde sie dement, sie konnte sich an einfache Dinge nicht mehr erinnern. Bis dahin war sie noch sehr aktiv gewesen, fuhr Auto, organisierte Senioren-Kaffeekränzchen. Die Demenz hat ihr freundliches Wesen nicht verändert. Ihre Angehörigen brachten sie erst in ein Altenheim, aber dort konnte das Personal nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen. Deshalb ist Elli jetzt hier. Die Namen ihrer Töchter kennt sie noch. Sie mag Tiere - ihre Kuscheltiere und den Hund ihrer Pflegerin Rosi, die am Nachmittag da ist. Hannelore weiß, dass Elli gerne singt. Und dass man mit Musik zu ihr vordringen kann. Deshalb stimmt sie ein Lied an: "Kommt ein Vogel geflogen". Hannelore kennt nur ein paar Takte auswendig, aber Elli kennt das ganze Lied. Sie hat an diesem Tag noch kaum ein Wort gesprochen. Jetzt singt sie: "Hat ein Zettel im Schnabel, von der Mutter ein' Gruß." Das Lied hat sie als Kind gelernt, jetzt dient es ihr als Gedächtnistraining.

Die WG lebt nicht nur in der Wohnung. Vor dem Nachmittags-Kaffee machen die Frauen einen kleinen Spaziergang um ihr Wohnhaus - Uschi stürmt voraus, die anderen folgen langsamer, Elli, Sigi und Hilde werden im Rollstuhl geschoben. Häufig nimmt Hannelore einige der Frauen mit zum Einkaufen. Manchmal unternehmen sie Ausflüge: Im Februar waren sie bei einer Faschingsfeier in einem Seniorenzentrum, im Mai geht es zu Hagenbecks Tierpark.

Um 18.30 Uhr gibt es Abendbrot. "Fütterung der Raubtiere", sagt Herta süffisant, als sie ihre WG-Mitbewohnerinnen beobachtet, deren Namen sie nicht kennt. Nach dem Essen gehen Sigi und Elli ins Bett. Die anderen schauen noch ein bisschen DVD, hören Musik, spielen Bingo oder Stadt-Land-Fluss.

Alle Frauen fürchten sich davor, noch einmal weg zu müssen. Hannelore versucht ihnen die Angst zu nehmen. Das Konzept der WG sieht vor, dass die Bewohnerinnen bis zu ihrem Lebensende in der Wohnung gepflegt werden.

Vor wenigen Wochen hatte die WG noch eine Bewohnerin mehr: Katharina. Nachts um drei hörte ihr Herz auf zu schlagen. Am nächsten Morgen hat Hannelore den anderen die Nachricht überbracht. Sie haben eine Kerze aufgestellt für Katharina und ein Gebet gesprochen. Natürlich haben die Frauen den Tod ihrer Mitbewohnerin noch am selben Tag vergessen. Aber dennoch ist der Tod auch für sie ein Thema - wenn auch kein geistliches. Das Personal ist zwar geistlich geschult, und der Pastor schaut regelmäßig vorbei. Aber täglich gebetet wird in der WG nicht, sagt Hannelore. Wenn Hilde fragt, ob sie noch mal weg muss, sagt sie aber dennoch: "Du darfst hier bleiben, bis der Herrgott dich ruft."

Am 21. März ist Hilde gestorben.