Das deutsche Hochschulsystem hat eine radikale Wandlung hinter sich, weil etablierte Studiengänge international vergleichbar werden sollten

Die Debatte über die "Bologna-Reform" hat Verunsicherung besonders bei jenen hervorgerufen, die künftig studieren wollen, aber auch bei ihren Eltern. Ein paar Worte deshalb an sie:

Über den Verlauf des Lebens, über dessen Glück gar, entscheidet das Leben und nicht die Kultusministerkonferenz. Für den beruflichen Erfolg sind Persönlichkeit, Kreativität, die Bereitschaft, mit anderen Menschen zu kommunizieren, wesentlicher als Punkte und akademische Titel. Jeder erfahrene Unternehmer weiß das, und manche Lehrerin nimmt beim Treffen ihrer ehemaligen Schüler betroffen zur Kenntnis, dass oftmals die gerade erfolgreich sind, von denen sie es am wenigsten erwartet hat. Eine erste Empfehlung für Studierende und Eltern deshalb: Gelassenheit.

Der Bologna-Prozess, die Einführung von Bachelor (BA) und Master wurde im Wesentlichen dadurch begründet, dass die Mobilität der Studierenden innerhalb Europas zu vergrößern sei, also aus einem äußeren, wenngleich bedeutsamen Anlass. Europa sollte zusammenwachsen. Dazu mussten Studiengänge und -abschlüsse vergleichbar werden.

Eine Reihe von Mitgliederstaaten waren an der Durchsetzung eines Hochschulsystems nach angloamerikanischem Muster für ganz Europa interessiert: studienbegleitende Prüfungen, dreistufiger Qualifizierungsprozess: Bachelor - Master - Promotion. Die kontinentale Universitätswelt unterlag. Ihr Wissenschaftsverständnis ebenfalls, das an der Logik der Wissenschaften und der Erkenntnis orientiert war und weniger an der Vermittlung von sogenannter Berufskompetenz. Beschäftigungsfähigkeit rückte ins Zentrum. Das war verständlich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Es war jedenfalls gut gemeint. Die deutschen Wissenschaftsverwaltungen erkannten die Gunst der Stunde: Wenn Bologna einen ersten "berufsqualifizierenden" Abschluss schon nach sechs statt wie bisher nach acht oder neun Semestern Regelstudienzeit erlaubte, konnte man rund 25 Prozent der Ausbildungskosten einsparen beziehungsweise für dasselbe Geld 25 Prozent mehr junge Menschen mit einem - dann allerdings nur noch BA - Abschluss versehen.

So wurde der sechssemestrige BA zum Regelfall in Deutschland, nicht so in anderen Ländern, in deren Universitäten deutsche Studierende nun teilweise keinen Zugang zum Masterstudium mehr bekommen, weil ihre Gesamtlernzeit, auch vor dem Hintergrund der verkürzten Gymnasialzeit, im OECD-Schnitt zu kurz ist.

Eine Bitte: Fragen Sie Ihre Abgeordneten, warum sie das zugelassen und nicht auf gesetzlichen Regelungen bestanden haben, um diese faktischen Kürzungen zu verhindern. Oder warum sie nicht ihre Wähler gefragt haben.

Wo ist nun eigentlich das Problem? Etwas genauer:

Laut Bildungsbericht "Bildung in Deutschland 2010" beträgt die Zustimmung der Studierenden zu den Aspekten der Umsetzung des Bologna-Prozesses je nach Fächern, Studienarten etc. zwischen 20 und 60 Prozent. Manche finden, das reicht.

Das Durchschnittsalter der Bachelorabsolventen beträgt 26 (statt 28 in den 90er-Jahren), das der Masterabsolventen 30 Jahre.

Die internationale Mobilität der Universitätsstudierenden hat sich nicht verschlechtert, wie manchmal behauptet, allerdings auch nicht verbessert. Sie beträgt 16 Prozent bei den BA-Studierenden.

Laut Incher-Studie, einer Studie zum Verbleib von Absolventen, finden BA-Absolventen in annehmbarer Zeit einen Arbeitsplatz, allerdings 45 Prozent nur in befristeten Positionen (alte Studiengänge: 30 Prozent) und 32 Prozent fachfremd (alte Studiengänge: 17 Prozent). Nur sechs Prozent aller Stellenangebote richten sich an Bachelorabsolventen ohne Berufserfahrung, so das "Institut für Management-Kompetenz" der Universität des Saarlandes. Bachelor welcome?

Das Durchschnittseinkommen von Bachelorabsolventen der Universitäten liegt laut Universität Kassel mit 2241 Euro um 15 bis 20 Prozent unter dem der Masterabsolventen, die am ehesten den alten Diplomabsolventen entsprechen. Daraus erwächst eine politische Forderung, die allerdings Geld kostet: Jeder sechssemestrige BA-Absolvent muss die Möglichkeit eines MA-Studiums bekommen. Ein Auftrag für die Landesgesetzgeber. Die Schiffsbauer an der ruhigen Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern haben unlängst einen Schildbürgerstreich gelandet. Sie bewegten den Landtag zu einer epochalen Entscheidung. Jetzt können Masterabsolventen auch ein Diplom bekommen. Aufregung im Bologna-Lager. Triumph bei den technischen Universitäten, die das immer schon wollten.

Die zweite Empfehlung lautet wie die erste Empfehlung: Gelassenheit. "Alles was gut war, kommt wieder zurück", sang Hildegard Knef. Gilt diese Aussicht auch für jene Wissenschaft, die deutsche Universitäten zum Weltmaßstab machte, die die "Civilisation française" kennzeichnete, die die Menschenrechte hervorgebracht hat? Wenn uns das wichtig ist, brauchen wir eine List: Wir müssen den Politikern sagen, dass sie gebildet sind.

Dass sie dieses nur deshalb sind, weil sie eine kontinentale Universität besuchten und dass sie drohen, die letzten ihrer Art zu sein, wenn sie uns in der Bologna-Welt nicht erlauben, uns für mehr verantwortlich zu fühlen als bloß für Wissensvermittlung und Kompetenzerwerb, sondern auch für die Menschenbildung einer nachwachsenden Generation.

Für Menschenbildung reicht es nicht aus, eine Ackermann-Formel zur Optimierung von Bankgeschäften zu beherrschen, sondern es muss auch die Moral dazu erworben werden, mit diesem Wissen verantwortungsvoll umzugehen. Das ist Bildung. Bildung durch Wissenschaft, die sich darin erfüllt, dass junge Menschen sich am Forschungsprozess in ihrer Universität, an der Suche nach Wahrheit und Gewissheit und am Bekenntnis zu diesen beteiligen können.

Deshalb eine Bitte an Sie alle: Solange noch eine Erinnerungsspur davon da ist, was mit allgemeiner Menschenbildung, mit Humanitas, einmal gemeint war, und solange es noch Reste einer Überzeugung davon gibt, dass es für uns alle besser ist, respektvoll miteinander umzugehen und unser Miteinander nicht nur durch Gesetze und Polizei zu regeln, bestehen Sie bitte darauf, dass Ihrer Universität durch die Politik erlaubt wird, ihren Beitrag dazu zu leisten: die nachwachsende Generation durch forschendes Lernen wirklich zu bilden und nicht nur berufsfähig zu machen.

Das kostet Zeit und Hingabe. Ihre Universität Hamburg ist dazu bereit.