Kinder- und Jugendhilfe ist ein Kernbereich der Caritas und Diakonie. Ein Expertengespräch über Veränderungen, Grenzen und Möglichkeiten in der Sozialarbeit mit Familien

Die Diakonie Hamburg betreut mit ihren Einrichtungen ein Viertel der rund 2700 Familien in der Hansestadt, die Hilfe zur Erziehung bekommen. Martin Apitzsch ist bei der Diakonie Fachreferent für Kinder- und Jugendhilfe. Regina Seyer ist Bereichsleiterin Erziehungshilfe bei der Caritas, die verstärkt in der Erziehungsberatung, aber auch in der ambulanten und stationären Betreuung tätig ist.

Hamburger Abendblatt:

Was hat sich seit dem Tod von Lara Mia in der Familienhilfe verändert?

Martin Apitzsch:

Wir haben eine Vereinbarung mit den Behörden getroffen, dass die Träger intern genau dokumentieren, was und wann sie etwas in den Familien tun. Diese Protokolle werden bei Konfliktsituationen dem Jugendamt vorgelegt. Früher war das eine freiwillige Sache.

Außerdem haben die meisten Träger das Vier-Augen-Prinzip eingeführt, also dass immer zwei Mitarbeiter mit einem besonders schwierigen Fall betraut werden. Wichtig ist, dass Mitarbeiter die Fälle nicht alleine lösen, sondern dass es ein Team, Supervision und eine Leitung gibt.

Zudem machen wir dieses Jahr Umfragen unter den betreuten Familien, wie zufrieden sie mit der Hilfe sind.

Wo gibt es weiteren Verbesserungsbedarf in Ihrem Bereich?

Regina Seyer:

Die gesamte Trägerlandschaft muss daran arbeiten, dass die Hilfe früher greift, dass nicht erst jemand kommt, wenn das Kind schon als gewalttätig aufgefallen ist. Wir müssen Strukturen schaffen, an die sich Familien wenden können, ohne dass das Jugendamt gleich involviert ist - für viele ist das ein Stigma. Aber das funktioniert nur, wenn Ressourcen da sind.

Apitzsch:

Famillienhilfe gleicht der Arbeit in einem Erdbebengebiet. Da sitzt in der Familie kein Stein auf Stein, das ist teilweise eine Katastrophe, da braucht man erst mal einen Überblick. Der Sozialarbeiter ist dann so etwas wie ein Familienmanager. Er kann aber nicht alles selber machen, sondern er muss mit Hebammen, Psychiatern oder auch Lehrern zusammenarbeiten. Da gibt es Verbesserungsbedarf in der Zusammenarbeit und in der Kommunikation.

Wie kommt ein Fall zu Ihnen?

Seyer:

Das Jugendamt bekommt eine Meldung, dass ein Kind gefährdet ist. Das Amt prüft das nach, lädt die Familie ein und empfiehlt eine Hilfe zur Erziehung. Meistens spricht ein Jugendamt als Kostenträger und Wächter des Verfahrens einen Träger für die Übernahme der Hilfe gezielt an.

Wie verläuft dann die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt?

Apitzsch:

Es gibt alle drei bis sechs Monate Hilfeplangespräche, in Krisen gibt es die auch öfter. Dabei sitzen Familie, Träger und Jugendamt zusammen und besprechen Ziele und Themen für die nächste Zeit. Der Träger ist in der konkreten Durchführung frei. Wir sind nicht der verlängerte Arm des Jugendamts.

Wie sieht eine typische Familie aus, die von Ihnen betreut wird?

Seyer:

Typisch ist eine junge Mutter, die drei kleine Kinder hat. Es gibt einen Partner, der nur Vater des jüngsten Kindes ist. Es gibt ein Suchtproblem oder eine psychische Erkrankung bei einem Elternteil. Und die Familie lebt in dritter Generation von Hartz IV.

Apitzsch:

Sie leidet unter Isolation und Ohnmachtsgefühlen. Oftmals gibt es Gewalt. Diese Probleme wirken sich auf die Kinder aus, die auffällig werden.

Wie lange bleiben die Mitarbeiter bei der Familie?

Apitzsch:

In der Regel ein bis eineinhalb Jahre, etwa sieben Stunden die Woche, das muss ja nachhaltig sein. Wir sind keine Super-Nannys, unsere Mitarbeiter stehen nicht im Mittelpunkt. Sie sind zurückhaltend. Die Familien müssen das Gefühl bekommen, dass sie die Akteure sind, die etwas dafür tun, damit es ihnen besser geht.

Welche Qualifikation brauchen ihre Mitarbeiter?

Seyer:

Alle brauchen ein abgeschlossenes Sozialpädagogik-Studium. Es muss jemand sein, der offen in eine Familie geht und nicht über verschiedene Lebensentwürfe urteilt.

Apitzsch:

Unsere Mitarbeiter müssen zudem Kirchenmitglied sein und das christliche Menschenbild mittragen. Wesentlich ist eine wertschätzende und akzeptierende Haltung gegenüber den Familien.

Die Zahl der Familien, die Hilfen zur Erziehung bekommen, ist in den letzten Jahren massiv gestiegen.

Was sind die Gründe dafür?

Seyer:

Die Gründe sind eine höhere Wachsamkeit in der Bevölkerung, zunehmend mangelnde Bildungschancen in bestimmten Schichten, hohe Arbeitslosigkeit. Und die Individualisierung der Gesellschaft, die von den Menschen verlangt, dass sie ihr Leben selbst in allen Bereichen steuern.

Apitzsch:

Zudem haben die psychischen Erkrankungen von Eltern zugenommen.

Dennoch plant die Sozialbehörde massive Einsparungen von rund 50 Millionen Euro in dem Bereich. Statt Einzelhilfen sollen Familien künftig mehr in offene Gruppen gehen. Was halten Sie davon?

Apitzsch:

Generell ist die Idee, vermehrt auch Gruppen anzubieten, gar nicht so schlecht. Aber der Vorschlag, dass man damit bis zu 80 Prozent der Einzelhilfen einsparen kann, ist nicht realistisch. Wir befürchten, dass bestimmte Familien gar nicht auftauchen. Denn gemeinsam kochen ist okay, aber gemeinsam über das eigene Suchtproblem oder die schwierigen Kinder zu reden ist etwas anderes, da gibt es dann so viele Schuld- und Schamgefühle, die erst mal keinen Gruppenbezug zulassen. Deswegen haben wir große Skepsis.