Managementberater Torsten Schumacher über fatale Fehler der Personalchefs, einen veränderten Bewerbermarkt und ungewöhnliche Forderungen für die Rekrutierung

Torsten Schumacher ist Experte für Führungsfragen und Autor des Buches "Leinen los! Aufbruch in ein neues Zeitalter der Mitarbeiterführung". Mit dem Abendblatt spricht er über Führungsstärke und attraktive Arbeitgeber.

Abendblatt:

Herr Schumacher, was machen Chefs falsch?

Torsten Schumacher:

Wir leben in einer Zeit der allgemeinen Hast und des hektischen Denkens und Handelns. Der schnell verdiente Euro wird wichtiger als die mittel- bis langfristige Wettbewerbsfähigkeit. Die besten Führungskräfte machen es anders. Sie haben ein ungewöhnliches Verhältnis zur Zeit: Sie denken und handeln langfristig. Auch und gerade in schwierigen Situationen: Sie stellen aktuelle Probleme in den Kontext eines längeren Zeitraums und bewahren so ihre ordnende Intelligenz.

Wir sind in einer Verunsicherung ...

Schumacher:

... und die führt dazu, dass viele Führungskräfte ihre Unsicherheit durch unzählige Messvorhaben zu bekämpfen versuchen. In manchen Unternehmen herrscht ein regelrechter Messwahn. Wir messen beispielsweise im Vertrieb, wer was wann bei uns kauft und stellen die Zahlenwerke in bunten Diagrammen und langen Excel-Tabellen dar. Wir wissen aber nicht, warum der Kunde bei uns kauft, und ob er es morgen und übermorgen auch noch macht. Ein Dickicht aus Kennzahlen verführt dazu, Führungskräfte aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Es wird aber niemals einen Autopiloten im Führungscockpit geben.

Was folgt aus diesem von Ihnen kritisierten Messwahn?

Schumacher:

Es geht etwas verloren, was wir dringender denn je benötigen: individuelle Urteilskraft. Sehen wir uns ein Beispiel an: Wenn 20 Vertriebsmitarbeiter ein Ergebnis von 100 erreichen, ist ihre individuelle Leistung 20-mal unterschiedlich zu bewerten. Denn der eine hat vielleicht ein gut etabliertes Vertriebsgebiet gerade von seinem Vorgänger übernommen, der zweite muss dagegen Aufbauarbeit leisten, der dritte hat gerade zwei wichtige Mitarbeiter verloren, der vierte ist ganz neu im Unternehmen und für den nächsten stellen sich wieder andere Herausforderungen. Wer Leistung beurteilen will, muss den jeweiligen Kontext durchdringen. Das erfordert Tiefgang und Zeit. Wir müssen akzeptieren: Leistung ist immer unscharf, nie eindeutig und deswegen diskutabel. Aber das macht Führung anspruchsvoll und spannend.

Das erfordert ja in den Unternehmen ein totales Umdenken.

Schumacher:

In der Tat. Zugespitzt gesagt: Je wichtiger ein Thema ist, desto weniger lässt es sich messen. Messvorhaben verhindern gerade das, was sie angeblich fördern wollen: individuelle Spitzenleistungen und Innovation.

Auf welche Auswahlpraxis treffen Sie in den Unternehmen?

Schumacher:

Die gängige Auswahlpraxis befindet sich in einem jämmerlichen Zustand. Dabei ist es die wichtigste Führungsaufgabe überhaupt. Es beginnt schon damit, dass für Auswahlgespräche viel zu wenig Zeit eingeplant wird. Sie werden zwischen die vielen Termine des sogenannten Tagesgeschäfts gepresst. Ich behaupte, ein professionelles Auswahlgespräch dauert einen halben Tag: ein bis zwei Stunden gründliche Vorbereitung, dann das Gespräch selbst mit nicht weniger als zwei Stunden, schließlich eine fundierte Nachbereitung. Die rein chronologische Durchsprache des Lebenslaufs ist Zeitverschwendung.

Worauf sollte der Personaler primär im Gespräch achten?

Schumacher:

Die Leitfrage muss sein: Was fällt Ihnen leicht? Und nicht: Was macht Spaß? Denn es geht darum, die Stärken zu stärken. Außerdem sind Einstellungen wichtiger als Sachkenntnis. Bei Letzterer kann man die Lücken relativ leicht schließen, Einstellungen jedoch ändern sich nicht, sondern bestimmen die Persönlichkeit. Beispiel: Übernehme ich gerne individuelle Verantwortung oder verstecke ich mich lieber im Team?

Und im Zweifel entscheidet dann das Bauchgefühl?

Schumacher:

Bauchgefühl reicht mir nicht. Wer Auswahlgespräche mit Zeit, Tiefgang, aufmerksamem Zuhören und Empathie führt, braucht seinen Bauch nicht. Und: Keine faulen Kompromisse machen! Im Zweifel müssen wir uns gegen den Kandidaten entscheiden.

Welche Bewerber sind begehrt?

Schumacher:

Wir brauchen in den Unternehmen Menschen mit wachem Verstand und innerer Unabhängigkeit. Jasager und Mitläufer gilt es auszusortieren. Wir brauchen in den Firmen Menschen, die sich um der Sache willen konstruktiv reiben wollen.

Wie wichtig sind häufig geforderte Eigenschaften wie Teamfähigkeit?

Schumacher:

Ich bevorzuge den Begriff der Zusammenarbeit. Sie entsteht freiwillig und spontan. Teams werden in unerträglichem Maß glorifiziert. Wer Teamfähigkeit fordert, bekommt graue Mäuse.

Viele Unternehmen suchen händeringend nach talentiertem Fachkräftenachwuchs. Wie finden sie diesen?

Schumacher:

Wir müssen endlich akzeptieren, dass sich die besten Talente ihren Arbeitgeber aussuchen und nicht umgekehrt. Wir haben bereits bei mehreren Kunden die Auswahlverfahren auf den Kopf gestellt. Aus den üblichen Assessment-Centern wurden Kennenlerntage. Dort erhalten die Kandidaten die Möglichkeit, für mehrere Stunden durchs Unternehmen zu gehen und Gespräche zu führen. Und das mit maximaler Transparenz. Danach berichten sie dem Management, was sie überrascht hat, was sie gut fanden und was ihnen nicht gefallen hat. Die Lerneffekte für alle Beteiligten sind enorm. Außerdem wird bei diesem Vorgehen deutlich: In jedem Unternehmen gibt es ungeschriebene Gesetze. Diese sind erlebbar und wichtiger als kilogrammschwere Organisationshandbücher, die ohnehin niemand liest.

Was zieht die besten Talente an?

Schumacher:

Zunächst: Es ist nicht das Geld. Und wer mit Sicherheit wirbt, der bekommt auch den sicherheitsorientierten Durchschnitt, der nicht weiter auffällt. Und das mit Sicherheit. Was also dann? Es sind Handlungs- und Gestaltungsspielräume. Freiräume ziehen die besten Leute an. Empirisch belegt. Deswegen konzentrieren sich die besten Führungskräfte auf Ergebnisse und räumen für deren Erreichung möglichst viele Wahlmöglichkeiten ein. Also: Vereinbaren Sie mit Ihren Mitarbeitern Ergebnisse und vertrauen Sie darauf, dass jeder Mitarbeiter seinen Weg dorthin findet. Übertriebene Fürsorge untergräbt jede Selbstverantwortung.

Wo sehen Sie positive Beispiele?

Schumacher:

Viele Mittelständler werden zu immer attraktiveren Arbeitgebern. Sie verbinden eine immer stärkere Internationalität mit Entwicklungsmöglichkeiten für den Einzelnen, von denen Konzerne nur träumen können. Dazu denken sie in Generationen, statt in Quartalen.

Welche Eigenschaften sind für Führungskräfte unverzichtbar?

Schumacher:

Die besten Führungskräfte sind Führungskräfte im wörtlichen Sinn. Sie haben ein wirkliches Interesse an ihrem Gegenüber und reden sowohl Mitarbeitern wie Kunden nicht nach dem Mund. Ich muss meinem Gegenüber auch sagen können, was sich für ihn nicht gut anhört. Das erfordert Selbstbewusstsein und innere Unabhängigkeit der Führungspersönlichkeit. Die besten Chefs sind authentisch in dem, was sie tun - in schonungsloser Offenheit und Klarheit.

Wie sollte ihre Kommunikation sein?

Schumacher:

Gute Führungskräfte reden verständlich und anfassbar, nicht technokratisch-abstrakt. Sie pflegen die persönliche Kommunikation. Also: weniger Mails, mehr direkte Gespräche und persönliche Begegnungen.

Was ist mit Feedback?

Schumacher:

Feedback ist überragend wichtig. Es muss konkret sein und sofort erfolgen, nicht nur einmal im Jahr beim Mitarbeitergespräch. Niemand erinnert sich in der Rückschau an Situationen, die Monate zurückliegen. Gutes Feedback erfordert einen wachen Geist, genaue Beobachtung und wirkliches Interesse am Gegenüber. Eine eher seltene Mischung. Dabei ist es ganz einfach, man muss es nur machen. Und die Ausreden über fehlende Zeit kann ich nicht mehr hören. Gutes Feedback dauert fünf Minuten.

Und wenn sich die Kritik bei einem Mitarbeiter häuft?

Schumacher:

Gute Chefs ziehen Konsequenzen. Damit meine ich nicht "Hire and Fire". Aber wenn ein Mitarbeiter seine Ziele über Jahre nicht erreicht, muss ein offener Dialog unter Erwachsenen stattfinden. Dabei geht es dann auch um die Frage, wie kommt es, dass Sie die Ziele nicht erreichen? Manchmal bietet sich ein Wechsel in eine andere Abteilung im Unternehmen an. Neun von zehn Mitarbeitern sind nach dem Gespräch erleichtert, denn niemand möchte unterdurchschnittliche Leistungen zeigen.

Was ist ein guter Führungsstil?

Schumacher:

Stil ist der falsche Begriff. Es gibt keinen guten und schlechten Führungsstil, sondern je nach Situation richtige oder falsche Führung. So müssen in einem Sanierungsfall in kurzer Zeit viele Entscheidungen getroffen werden, Führung unter Einbindung möglichst vieler Mitarbeiter führt in einer solchen Situation nicht weiter.

Was ist Ihre Forderung an Personaler?

Schumacher:

Wir brauchen Menschen mit wachem Geist. Deshalb: Stellt mehr Leute mit Ecken und Kanten ein. Viel zu häufig werden Bewerber bevorzugt, von denen keine Schwierigkeiten zu erwarten sind oder die so sind, wie die, die schon da sind. Wer diese Forderung nicht beherzigt, wird in seinem Unternehmen eine amorphe graue Masse vorfinden. Deshalb: Entscheiden Sie sich für Vielfalt statt für Konformität.