Das dänische Multitalent Poul Gernes wandert stilsicher zwischen Genres und Gattungen

Hat diesen Künstler jemand mit Schaffenskraft injiziert? Wer versucht, das Lebenswerk von Poul Gernes (1925-1996) zu überblicken, ist schier überwältigt von der Fülle, Vielfalt und überbordenden Vitalität des Oeuvres. Poul Gernes malte riesige Bilder, stellte sie auf Stelzen in einen Park oder hängte sie unter die Decke. Er leitete Skulpturen und Rauminstallationen ab, entwickelte Happenings und betätigte sich als Performance-Künstler. Er gründete eine Kunstschule, drehte Filme, plante eine Meta-Stadt und stattete 160 Gebäude in Dänemark mit Wandmalerei aus, darunter ein 25 Stockwerke hohes Krankenhaus bei Kopenhagen, komplett, jedes einzelne Zimmer.

Was für ein Vorhaben, diesem Künstler eine Retrospektive zu widmen. Die Deichtorhallen wagen es nun und zeigen in der 3000 Quadratmeter großen Halle in einer spezifischen Ausstellungsarchitektur die Schau "Paul Gernes - Retrospektive". Ganz im Sinne des dänischen Künstlers muss die 400 Werke umfassende Präsentation als Gesamtkunstwerk gesehen werden. Denn Paul Gernes bewegte sich unbefangen zwischen Stilen, Genres und sogar Gattungen. Poul Gernes bespielte den Dänischen Pavillon auf der Biennale von Venedig 1988 und wurde 2007 auf der documenta XII in Kassel ausgestellt.

Als charakteristisch für Poul Gernes lassen sich Bildserien aus den 60er- und 70er-Jahren bezeichnen. Zwischen Minimalismus und Pop-Art angesiedelt, nutzt er geometrische Grundformen - Quadrate, Kreise, Streifen - die mal konzeptionell, mal zufällig angebracht in leuchtenden Farben strahlen. Bald kommen florale und ornamentale Elemente dazu. Er verteilt Buchstaben, sodass ihre semantische Bedeutung fast verschwindet und reine Zeichen übrigbleiben. Er malt Flaggenbilder als flimmernde Farbfelder. Gerade so, als wolle er Dinge von ihrer Bedeutung reinigen, damit neuer Sinn entstehen kann.

Die Bilder von Poul Gernes tragen weder die Vergeistigung der Konkreten Kunst noch die abgeklärte Reinheit des Minimalismus. "Ihr umfassender Charakter weist weg vom Bild, weg von formalen Experimenten. Deshalb wächst das Bild jetzt aus sich hinaus und wird zu Serien von Farb- und Lichtwellen", schreibt der dänische Kunsthistoriker Troels Andersen im Katalog.

Mit ihm zusammen hat Poul Gernes 1961 in Kopenhagen die "Experimental Art School" gegründet. In den ersten Jahren wurde sie zum Aufführungsort von improvisierten Fluxus- und Happening-Performances. Seit den 80er-Jahren widmete sich Poul Gernes der Innenraumgestaltung von öffentlichen Gebäuden. Selten hat sich ein Künstler so frei von Dogmen über Grenzen hinweggesetzt und ein direkt an das Leben gerichtetes Werk geschaffen.

Poul Gernes - Retrospektive 8.10.2010 bis 16.1.2011, Deichtorhallen Hamburg, Deichtorstraße 1-2, Di-So 11.00-18.00, Do 11.00-21.00, Katalog 68 Euro