Opfer-Berater Irmgard Nauck und Rainer Kluck sagen, warum Kirchengemeinden für sexuellen Missbrauch anfällig sind

Das Thema sexuelle Missbrauch an Minderjährigen erschüttert derzeit die Grundmauern der Katholischen und Evangelischen Kirche. Mitarbeiter versuchen nun, Missbrauchs-Fälle aufzuklären, vorzubeugen und Opferschutz anzubieten.

Eine von ihnen ist Irmgard Nauck, Pastorin der Gemeinde Altona-Ost. Die 53-Jährige moderiert den vor acht Jahren gegründeten "Runden Tisch gegen sexualisierte Gewalt in Kirche und Diakonie", der Schulungen und Broschüren für kirchliche Vorgesetzte entwickelt, um diese für das Thema zu sensibilisieren. Außerdem leitet Irmgard Nauck die kirchliche Beratungsstelle "Patchwork", für Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden.

Auch Rainer Kluck ist Mitglied des Runden Tisches. Er ist 52 Jahre alt und Geschäftsführer im Bereich Bildung des Kirchenkreises Hamburg-Ost.

Hamburger Abendblatt:

In Ahrensburg hat ein Pastor über Jahre Jugendliche sexuell missbraucht, ohne dass er angezeigt wurde. Wie konnte es dazu kommen und inwieweit hat sein Amt es ihm erleichtert?

Rainer Kluck:

Missbrauch kommt überall vor, am häufigsten in der Familie, aber auch in der Schule und im Sportverein. Kirchengemeinden sind deshalb anfällig für das Thema sexualisierte Gewalt, weil das, was die Stärke von Gemeinden oft ausmacht, zugleich auch ein Gefährdungspotential ist. Nämlich das Vertrauen in das haupt- und ehrenamtliche Personal mit "Amtsbonus" und die große Vertraulichkeit, mit der intime Details aus der Biografie von "Schutzbefohlenen" bekannt werden. Potentielle Täter wissen das zu nutzen. Sie suchen sich den "Spielraum" von Tabus im Gemeindeleben: Macht, Gewalt, Sexualität, um trotz offensichtlicher Verdachtsmomente kritisch Fragenden entgegen zu treten. Das schlechte Gewissen, einen sympathischen, engagierten, qualifizierten Mitarbeitenden mit einem Verdacht zu konfrontieren, liegt bei dem Fragenden und die Solidarität der Gemeinde, der Öffentlichkeit ist selten am Anfang bei den Aufklärern.

Wie kann sich die Kirche nun verantwortungsvoll den Missbrauchsfällen stellen?

Kluck:

Als Kirche haben wir immer schon spezielle Beratung für Opfer angeboten. Die Frage, die sich jetzt neu stellt, ist, wie wir mit diesem Thema umgehen, wenn wir in unseren eigenen Reihen Täter haben und damit nicht mehr eindeutig als ganze Kirche nur auf Seiten der Opfer stehen.

Irmgard Nauck:

Es gibt sicher eine besondere Verpflichtung zur Aufarbeitung, zur Prophylaxe und zur Aufklärung, wenn Verdachtsmomente da sind.

Wie kommt ein Pädophiler an seine Opfer ran?

Nauck:

Zu Opfern werden häufig Kinder und Jugendliche, die bislang nicht viel Liebe oder Zuneigung erfahren haben, sie werden vom Täter instinktiv ausgesucht. Er baut ganz strategisch ein immer enger werdendes Verhältnis auf, in dem er dem Kind viel Zuneigung, und Beachtung gibt, ihm Geschenke macht oder bei den Hausaufgaben hilft. Danach sehnt sich das Kind und vertraut ihm. Dadurch er wird zum oft wichtigsten Menschen im Leben, das Kind fühlt sich auserwählt.

Dann erst gibt es kleine Grenzüberschreitungen, ein Streicheln, einen Kuss und damit einhergehend, die Verpflichtung des Betroffenen, darüber zu schweigen. Die Tabuisierung geht vom Täter aus. Nun beginnt ein Kreislauf: Das Opfer geht immer wieder hin, weil es dort Zuwendung erfährt und erlebt gleichzeitig etwas Unheimliches, Sexuelles, etwas, worüber es auch noch schweigen muss. Diese Grundkonstellation ist zum Verrückt werden.

Wie können Sie den Betroffenen helfen?

Nauck:

Es geht in unserer Beratung immer zuerst um das Opfer. Wir sind ganz klar parteiisch und alle Aktionen dienen ausschließlich seinem Wohle. Wir fragen immer ganz gründlich: Was soll erreicht werden? Es macht ja einen großen Unterschied, ob man den Täter vor Gericht bringen will, oder ob der Betroffene "nur" vom Täter in Ruhe gelassen werden soll.

Viele Menschen kommen jedoch erst lange nach der Tat zu uns. Bei Frauen brechen oft alte Erinnerungen auf, wenn sie 30, 40 Jahre alt sind und zum Beispiel selbst Familie gründen. Da ist dann die Geschichte juristisch verjährt und das Ziel möglicherweise eine therapeutische Bearbeitung des Traumas.

Ist es nicht sehr unbefriedigend, dass die meisten der Strafen schon verjährt sind, wenn sie ans Licht kommen?

Nauck:

Ja, unbedingt. Man muss davon ausgehen, dass die Betroffenen ein Leben lang gezeichnet sind. Da müsste die Verjährungsfrist verlängert werden.

Hilft es denn den Opfern, wenn sie den Täter hinter Schloss und Riegel bringen?

Nauck:

Für das Opfer spielen Schuldgefühle und Tabuisierung eine große Rolle. Deshalb ist es für die Menschen auch so wichtig, dass Öffentlichkeit hergestellt wird. Ich bin davon überzeugt, dass die Berichterstattung für die Betroffenen jetzt heilsam ist. Sie sind dadurch mit der Tat nicht mehr ganz allein.

Kluck:

Als Bedingung dafür muss gelten: Die Betroffenen können selbst entscheiden, wie weit und ob sie sich überhaupt mit ihrer Geschichte in der Öffentlichkeit präsentieren.

Nauck:

Wichtiger als die Verurteilung ist für das Opfer aber die Frage der Schuld. Der Täter muss sich zu seiner Schuld bekennen und sie dem Opfer abnehmen. Das wäre ein erster Schritt, wieder frei zu werden für das Leben. Leider leugnen alle Täter und wenn die Mutter noch wegschaut, etwa weil der Stiefvater der Täter ist, dann ist das wie ein Doppelter Verrat am Kind.