Jill wird neun Wochen zu früh geboren. Ein Winzling, der manchmal zu atmen vergisst und seine Eltern in ein Wechselbad der Gefühle reißt. Wir haben seine ersten Lebenswochen begleitet.

An einem kalten Dienstag Ende Januar, um 16.25 Uhr, kommt Jill Steinbeck zur Welt. Jill wiegt 1400 g, ist 39 cm groß und hat schwarze Haare. Jill wird über zwei Monate zu früh geboren. Birthe Steinbeck ist 38 Jahre alt und in der 31. Woche schwanger, als sie an einem Samstag durch Altona bummelt. Es ist ihre vierte Schwangerschaft, sie hat schon drei Jungs zur Welt gebracht. Der älteste ist 18, die beiden kleinen sind drei und eineinhalb. Das vierte Kind, es ist wieder ein Junge, soll Ende März kommen. Doch so richtig sicher sitzt das Baby nicht mehr. Birthes Muttermund ist ein Stück verkürzt. Ihr Arzt hat gesagt: "Fünf Wochen schaffen wir noch."

Dann platzt ihre Fruchtblase, mitten in einem Altonaer Einkaufszentrum. Sie versucht schnell rauszukommen. Bleibt im Fahrstuhl stecken. Nicht lange, aber es reicht, um die Angst hochkochen zu lassen. Irgendwie schafft sie es nach Hause, im eigenen Auto, mit einer Wolldecke unterm Po. Das Fruchtwasser läuft. Sie denkt nicht daran, einen Notarzt zu rufen. Sie ist nicht der Typ für hysterische Aktionen. Aber später, im Krankenhaus, spürt Birthe sie: die Angst. Ihr Körper ist voll davon. Angst davor, was mit ihrem Kind sein wird. Was ist mit den Ohren, den Augen, den Blutgefäßen? Und wird es die Geburt überstehen? Diese Angst kann ihr niemand nehmen, auch die Ärzte nicht, die ihr Mut zusprechen.

Sie soll jetzt ein Kind auf die Welt bringen, das erst mal nicht ohne Intensivmedizin überleben kann. Eine Handvoll Leben, unreif, unfertig, ungeschützt. Hineingeworfen in eine Welt voller Schläuche und Apparate - eine Welt, die noch vor wenigen Jahrzehnten keinen Platz für solche Frühchen gehabt hätte.

Ein Kind sei eine Hoffnung, sagt die Glückwunschkarten-Industrie. Aber worauf darf man noch hoffen, wenn Tod und Leben so nah beieinander liegen, wenn da ein launischer Zufall, ein Schicksal, ein unbekannter Gott über Nierenfunktion, Lungenreife und Spätfolgen entscheidet?

Ich hab mich gefühlt wie in einem bösen Traum. Ich habe das, was um mich herum passierte, die Ärzte, die Schwestern, die Hebammen, gar nicht richtig wahrgenommen. Ich musste liegen, mindestens 48 Stunden. In dieser Zeit habe ich zwei Spritzen bekommen, die sollten die Lunge meines Babys reifen lassen. Und Wehen hemmende Mittel. Die haben die Muskulatur außer Gefecht gesetzt. Ich konnte mich kaum bewegen. Es war die Hölle, so dazuliegen.

Am Dienstagmorgen entscheiden die Ärzte gemeinsam mit den Eltern, dass das Kind jetzt kommen soll und leiten die Geburt ein. Birthe und ihr Mann sind erfahren, was Geburten angeht. Die Ärzte und Hebammen beruhigen, sprechen Trost zu. Aber dennoch ist diesmal alles anders. Birthes Mann kippt im Kreissaal zweimal um. Und Birthe weint und weint und weint. Die Anspannung. Die Angst vor dem Unvorstellbaren. Davor, dass ihr Kind nicht viel größer sein wird als eine Tüte Milch. Aber: Jill lebt.

Er hat geschrien! Als er geboren wurde, hat er doch tatsächlich geschrien. Da wusste ich, dass alles gut ist. Mein Mann und ich haben uns angeschaut und geweint. Wir waren so glücklich, Jill zu sehen. Ich fand ihn so süß. So hübsch.

Die Neugeborenen-Intensiv-Abteilung im Hamburger Albertinen-Krankenhaus ist hell, licht und freundlich. Die Türrahmen sind in bunten Farben gestrichen, von der Decke baumeln Mobiles, an den Wänden hängen Babyfotos. Wirkt gar nicht wie eine Intensivstation. Einzig: Es ist so still hier.

Birthe Steinbeck sitzt auf einem blauen Stuhl. Sie hat nur eine Jeans und einen BH an. Unter einer Wolldecke, auf Birthes Brust, liegt ihr kleiner, kleiner Sohn. Auf dem Kopf hat er einen dunklen Flaum und ein Mützchen. Seine Haut ist dünn und durchscheinend, seine Ärmchen, seine Hände und seine erstaunlich langen Finger sehen irrwitzig zerbrechlich aus, aber nicht schwach. Er wirkt ruhig und stark. Geradezu gelassen. Als würde er das hier schon regeln.

Diese kraftvolle Ausstrahlung hat der Winzling offenbar von seiner Mutter geerbt. Und auch wenn ihr Körper sichtlich erschöpft ist, so lässt sie sich ihren Optimismus nicht nehmen.

Aber dann piept es. Laut und durchdringend. Ein Alarmsignal. Auf dem Monitor, an den Jill über ein Pulsoxymeter (ein Gerät zur Messung des Sauerstoffgehalts des Blutes) und über EKG-Elektroden angeschlossen ist, fällt eine blinkende Zahl auf unter 60.

Jedes Mal, wenn es hier piept, ist das, als würde ein böser Film ablaufen. Dann überfällt mich eine lähmende Angst. Normalerweise hat man für sein Kind doch einen Instinkt und weiß, was zu tun ist. Und jetzt, mit diesen ganzen Geräten um mein Kind herum, fühle ich mich einfach nur hilflos.

Jill hat vergessen zu atmen. Eine Schwester kommt, streichelt ihn liebevoll, weckt ihn aus seinem Vergessen, erinnert ihn ans Atmen, lobt ihn, beruhigt die Mutter. Birthe erwacht aus ihrer Schreckstarre.

Das Leben in diesen ersten Wochen ist so verdammt wankelmütig. Plötzlich könnte dem Baby doch noch die Kraft fehlen, weiterzumachen. Glück und Unglück - sie sind hier wenige Augenblicke voneinander getrennt.

Die Maschinen an den Kinderbettchen sollen Sicherheit geben, aber sie sind auch wie Kristallkugeln. Auf die starren die Eltern und erhoffen sich Wahrheit - von einer Technik, die sie nicht durchschauen. Wie ist die Atmung? Schlägt das Herz gleichmäßig? Das alles aushalten und zuversichtlich bleiben - vielleicht ist das die Hauptaufgabe der Eltern.

Jill macht ein winzig kleines U-Boot-Geräusch. Dann schmatzt er ein bisschen. Birthe lächelt.

Er ist so leicht. Ich spüre es kaum, dass er auf mir liegt. Ich muss ihn schon anfassen, um zu begreifen, dass er wirklich da ist.

Die Neugeborenen-Intensiv-Abteilung im Albertinen-Krankenhaus ist ein Zentrum Level II. Sie wird seit vielen Jahren in Kooperation mit dem Altonaer Kinderkrankenhaus betrieben. Die Ärzte und Schwestern können hier Frühgeborene versorgen, die ab der 29. Woche kommen und mindestens 1250 Gramm wiegen. Wobei die Reife der Babys entscheidend ist, nicht das Gewicht. Babys die noch früher kommen, müssen in noch spezialisierteren Kliniken versorgt werden.

Generell wird in Deutschland ab der 24. Woche versucht, ein Kind zu retten. Ein Drittel der Kinder, die so früh zur Welt kommen, übersteht das gut. Ein Drittel hat später unter leichten Behinderungen zu leiden. Und ein Drittel ist schwer behindert oder schafft es nicht. Weil die kleinen Blutgefäße im Gehirn die Schwerkraft noch nicht aushalten und zu bluten anfangen. Weil das unreife Verdauungssystem sich entzündet. Oder weil andere Komplikationen auch nicht mehr von der Intensivmedizin überwunden werden können.

Der Fortschritt bei der Rettung von Frühgeborenen stellt Eltern und Ärzte inzwischen regelmäßig vor ethische Fragen, die noch vor 100 Jahren völlig unbekannt waren: Wann sollen lebensrettende Maßnahmen noch ergriffen werden? Wie viel Behinderung ist im Zweifel erträglich, wenn die Alternative der Tod ist?

Es gibt Empfehlungen, aber keine letztgültigen Wahrheiten. Eine mögliche Behinderung des Kindes dürfe keinen Therapieverzicht rechtfertigen, heißt es in einer gemeinsamen Leitlinie mehrerer medizinischer Fachgesellschaften in Deutschland: "Wenn für das Kind die Chance zum Leben besteht, sollen lebenserhaltende Maßnahmen ergriffen werden."

In Deutschland werden im Schnitt acht Prozent aller Kinder zu früh geboren, und oft lässt sich kein genauer Grund finden. Vielleicht hat die Plazenta das Kind nicht mehr ausreichend versorgt. Vielleicht drohte eine Infektion. All das ist schwer einzuschätzen. Fakt ist: Die Zahl der Frühgeburten ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Risiken der Mütter wie Alter, Mehrlingsschwangerschaften und Gesundheitsprobleme tragen dazu bei.

Fakt ist auch: Frühgeburten sind ein bisschen wie Erdbeben. Sie passieren einfach.

Dann gibt es keine einfachen Antworten mehr. Nur noch dieses Menschlein, das leben will. Und - im besten Fall - Eltern, die lieben können. Sich hintanstellen können und ihren Traum von der idealen Geburt, vom Wunschkind.

Jill liegt in seinem Inkubator-Bettchen. Er ist inzwischen sechs Tage alt, braucht keine Atemunterstützung mehr. Nur ein bisschen Koffein, einen kleinen Wachmacher, das bekommt er intravenös. Hilft dabei, das Atmen nicht so oft zu vergessen. Über den Zugang in seiner zarten Vene bekommt Jill außerdem Glucose, Elektrolyte, Eiweiß, Fett und Kohlehydrate. Das wird in den nächsten Tagen immer weniger werden. Wenn Jills Verdauungssystem immer mehr Muttermilch aufnehmen kann. Die Milch pumpt Birthe Steinbeck Tag und Nacht für ihren Sohn ab, und der bekommt sie dann über eine Spritze, die an seiner Magensonde hängt. Jill kann die süße Milch seiner Mutter noch nicht schmecken, aber er kann sie fühlen. Wenn sie im Bauch angekommen ist, atmet er ruhig und zufrieden. Und sabbert ein ganz kleines bisschen seinen Brutkasten voll. Wenn er Hunger hat, sagt er sehr deutlich Bescheid. Mit einem kleinen, aber ernst zu nehmenden Stimmchen. Der Hosentaschentiger.

Jill scheint aus dem Gröbsten raus zu sein. Mit seiner Reife ist das Risiko einer Gehirnblutung kein großes Thema mehr. Auf den Darm muss man achten, der ist immer anfällig für Entzündungen. Aber das Einzige, was Jill noch wirklich gefährlich werden kann, ist eine Infektion.

Es gibt auch ein Leben außerhalb des Krankenhauses, eine Altbauwohnung, Jills Geschwister, einen Beruf - um das alles kümmert sich Jan Steinbeck, der Vater. Jan ist 33, Handwerker und scheint aus dem gleichen Holz geschnitzt wie seine Frau. Für einen Menschen, der einer harten Belastungsprobe ausgesetzt ist, wirkt er ungewöhnlich gelassen. Auf dem Tisch liegt eine Stulle Vollkornbrot in Frischhaltefolie. Jans Mittagessen. Er wird es später auf der Fahrt ins Krankenhaus essen, wenn er seine Frau nach Hause holt. Wenn sie beide die Station verlassen, mit einer Tasche und einer Milchpumpe in der Hand, und Jill nicht mitnehmen können. Allein der Gedanke tut weh. Aber sie wissen, dass ihr Kind bei den Ärzten und Schwestern in guten Händen ist.

Ich bin ganz guter Dinge. Jill ist zwar noch sehr, sehr klein, aber er ist superkernig und vital. Er pieschert ja sogar schon. Dass das so funktioniert. 1400 Gramm liegen da, atmen selbstständig und pieschern. Trotzdem ist es natürlich ein merkwürdiges Gefühl. Ich bin sein Papa, aber es ist eine Scheibe zwischen uns. Ich möchte ihm so gerne helfen, aber ich kann nichts tun. Ich kann nur den Ärzten vertrauen. Und ich kann bei ihm sein, so oft es geht. Damit er meine Stimme hört und weiß, dass ich da bin.

Täglich pendelt Birthe Steinbeck jetzt zwischen Intensivstation und zu Hause. Der Spagat ist gigantisch. Zu Hause sind die anderen Kinder, denen auch die leidenschaftlichste Mutter in so einer Situation nicht gerecht werden könnte. Und im Krankenhaus ist ihr allerkleinstes Kind, allein, ohne sie. Sie tut, was sie kann: pumpt Milch ab wie eine Schwerstarbeiterin und fährt sie in kleinen Fläschchen zu Jill.

Die Steinbecks funktionieren jetzt nur noch in einem straff durchorganisierten Programm. Birthe ist vormittags bei Jill und spätabends. Jan arbeitet bis fünf, fährt dann zu Jill, kümmert sich, wenn die anderen Kinder im Bett sind, um die Wohnung. Um eins gehen Jan und Birthe ins Bett und stehen um sechs wieder auf. Sie sind dünn geworden.

Als Jill zwei Wochen alt ist, hat Birthe das Gefühl: Irgendwas stimmt hier nicht. Jill wirkt schlapp, und seine Atmung setzt sehr häufig aus. Als er gegen Abend immer schwächer wird, untersuchen die Ärzte sein Blut. Es wird nicht ganz klar, welche Keime Jill da bedrohen, aber die Ärzte geben sofort ein Antibiotikum, Jill geht es schon am nächsten Tag besser - doch der Schreck sitzt.

Birthe und Jan lassen das Telefon nicht mehr aus den Augen. In den nächsten Tagen gibt es im Hause Steinbeck keinen Staubsauger, keinen Fön. Zu laut. Könnte das Telefon übertönen. Und abends, wenn sie im Bett liegen, werden Worte wie "Krankenhauskeime" und "Herztöne" riesengroß.

Ein paar Tage nach Jills Infektion gibt es einen Notfall auf der Intensivstation. Birthe ist da und hat Jill auf dem Bauch, als es auf dem Gang hektisch wird. Sie hält ihren Sohn ganz fest. Und denkt immer nur: Es ist nicht mein Kind. Nicht mein Kind. Sie fühlt sich schuldig, weil sie das denkt.

Als der Winter langsam zu Ende geht, zieht Jill um. Vom Brutkasten ins Wärmebettchen, dann in ein ganz normales Babybett. Die Infusion ist weg. Kein Koffein mehr, keine intravenöse Ernährung. Die Magensonde braucht er auch nicht mehr. Er bekommt Muttermilch aus einem kleinen Fläschchen, da haut er auch mal 65 Milliliter auf einen Schlag weg. Man spürt: Der will jetzt wachsen. Er wiegt inzwischen 1850 Gramm, sein Herz schlägt gleichmäßig, es geht ihm gut.

Und dann, am Freitagabend, kommt Papa, um ihn zu baden. Papa zieht ihn aus, unter einer Wärmelampe. Das dünne Kerlchen. Sieht gar nicht mehr so auf die Welt geschmissen aus wie noch vor drei Wochen. Es ist, als wäre er jetzt endlich hier angekommen. Das Pulsoxymeter noch ab, und auch die EKG-Elektroden. Papa hält Jill mit einer Hand und taucht ihn ins Wasser. Jill ist ganz ruhig, während er badet. Gefällt ihm wohl. Und dieser winzige Junge, der eigentlich noch gar nicht hierher gehört, hat die ganze Zeit die Augen auf. Und wer genau hinschaut, kann es sehen: Sie sind strahlend blau.