Chorschule, Konzerte, Experimente - das Angebot der Christianskirche ist anspruchsvoll und kommt in Ottensen gut an.

Wenn Anna singt, dann schaut sie zu den Sternen hoch. Golden schimmern sie auf der himmelblauen, gewölbten Decke, die dem Raum der Christianskirche in Ottensen eine scheinbare Weite gibt und für eine wunderbare Akustik in dem Gotteshaus sorgt. Die 15-Jährige liebt es, wenn sich ihre klare, helle Stimme mit der ihrer Chorfreunde mischt und zu einer Stimme wird. Sie mag die Aussicht von ihrem Platz auf der Empore neben der spätbarocken Orgel. "Die Kirche ist so hell und offen, so schön verziert", sagt Anna.

Das letzte Licht des Tages strömt gerade durch die hohen Rundbogenfenster der Barockkirche und überzieht die gold-weiße Altarwand mit einem warmen Schimmer. Keck schauen die sitzenden Engel im oberen Drittel des Altars auf die Gemeinde hinab.

Ein weiterer gold-weißer Engel schwebt im vorderen, rechten Bereich über dem ältesten Schmuckstück der 1738 eingeweihten Kirche, einem Taufstein aus dem 13. Jahrhundert.

Dem gegenüber steht, aus der Altarwand ausgegliedert, die mit den Putten bekrönte Kanzel - allerdings erst seit den 50ern, als die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Christianskirche wiederaufgebaut wurde.

Am ursprünglichen Kanzel-Standort sticht nun seit 1968 ein modernes Gemälde in blau-roten Farben von Hans Gottfried von Stockhausen hervor. "Das Bild heißt ,Das Loblied der Erlösten'. An ihm scheiden sich die Geister, vielen in der Gemeinde gefällt es nicht. Doch ich finde es anregend, wenn die barocke Pracht mal unterbrochen wird", sagt Pastor Frank Howaldt.

Der 48-Jährige ist ein lebhafter, eloquenter Mann, der es gemeinsam mit seinem Team aus zwei weiteren Pastoren und einem engagierten Kantor in wenigen Jahren geschafft hat, aus der nach dem dänischen König Christian VI. benannten Kirche, einen Stadtteilmittelpunkt zu machen. "Als ich hier 1993 ankam, versammelten sich sonntags beim Gottesdienst vor allem die eher bürgerlichen Ottenser, eine geschlossene Gruppe von rund 20 Leuten", erzählt Howaldt.

Inzwischen kommen durchschnittlich 120 bis 150 Leute in die Messe, bei außergewöhnlichen Gottesdiensten wie an Fasching oder Erntedank können es auch mal mehr als 300 sein. Es sind vor allem junge Familien, das gebildete, urban geprägte Publikum von Ottensen. "In Ottensen ist es cool, in die Kirche zu gehen, hier treffe ich viele Freunde. Man kennt sich", sagt Anna, die in der Gemeinde konfirmiert wurde und seit zweieinhalb Jahren auch dort im Chor singt.

In der Kirche Bekannte treffen, das klingt eher nach Dorf als nach Großstadt. Doch mit zwei Kindergärten und einer Grundschule, die zur fusionierten Gemeinde der Christians- und Osterkirche gehören, gibt es viele Anknüpfungspunkte für Eltern und Kinder.

Cool und "hip" zu sein, das haben die Pastoren allerdings mit Konsequenz und hohem Qualitätsanspruch geschafft: "Niedrigschwellige Angebote sind nicht unser Ding, wir laden nicht einfach zum Grillfest ein, sondern bieten Konzerte, Experimentelles oder Kunst an", sagt Howaldt. Danach gibt es allerdings immer auch ein Glas Wein - die Kirchenbesucher sollen mit Künstlern und miteinander ins Gespräch kommen. "Music-Education", nennt Howaldt das. Deswegen stehen in der hinteren Kirche dauerhaft Tische und Stühle - Café-Atmosphäre im spirituellen Raum.

Dass so ein Programm weniger gebildete Ottenser abschreckt, ist dem Pastor durchaus bewusst. "Wie für Kirche insgesamt, ist es auch für uns schwer, das sozial schwächere Milieu zu erreichen", gibt er zu. Auch Rentner sind unter den 5500 Gemeindemitgliedern mit knapp zehn Prozent die Minderheit, ebenso junge Erwachsene.

Die Gemeinde ist inzwischen Mitorganisator der Altonale, einmal im Jahr gibt es einen Stop Klock Poetry Slam - schließlich ist der berühmte Dichter Klopstock auf dem Friedhof der Kirche begraben und für die eher anspruchsvollen Interessierten gibt es seit 2004 das "Forum Neue Musik", wo zeitgenössische Musik von hochkarätigen Künstlern präsentiert wird.

Letzteres ist eher die Kür, denn Herzstück der Gemeinde ist eindeutig die Chorschule von Kantor Igor Zeller, die der gebürtige Kölner vor rund zehn Jahren aufgebaut hat. "Damals lag die Musikabteilung brach, es gab in der Gemeinde keine kirchenmusikalische Tradition. Das war Problem und Chance zugleich", sagt der 41 Jahre alte Musikpädagoge. Inzwischen unterrichten er und seine Frau 230 Hobbysänger in sechs Kinder- und Jugendchören, sowie zwei Erwachsenenchören.

Die Jüngsten fangen in der ersten Klasse an. So wie Benjamin, der schon seit fünf Jahren von Zeller unterrichtet wird und im Kinderchor singt. Als Junge genießt er seltenheitswert, Mädchen sind hier eindeutig in der Überzahl. "Meine Freunde finden es schon komisch, dass ich singe, aber ich finde es spannend zu lernen, wie man hoch und tief, laut und leise singt und dann gemeinsam mit der Gemeinde einstimmt", sagt der Zehnjährige.

Genau darin sieht der Kantor den Schlüssel zu seinem Erfolg: "Im Chor fühlen die Kinder sich gefordert, ernst genommen und wir trauen ihnen viel zu. Das fasziniert sie."

Mit seiner kleinen Brille und den lockigen Haaren sieht Zeller jugendlich aus, doch im Herzen ist er Traditionalist. "Ich mache aus den Chorauftritten keine Events, das Wichtigste ist der Gottesdienst. Die Chormitglieder sollen auch nicht nur moderne Lieder singen, sondern ich arbeite ganz viel mit dem evangelischen Gesangbuch", sagt Zeller. Diese Mischung aus Moderne und Tradition ist es, die die 14 Jahre alte Hannah so sehr an der Christianskirche mag. "Sie ist anspruchsvoll und dabei aber noch genug Kirche, dass man sich mit ihr identifizieren kann. Im Gottesdienst gibt es immer den gleichen, ritualisierten Ablauf, aber immer wieder kleine Überraschungen dazwischen - das macht den Reiz aus."